Alzurs Reise

Kapitel 1


"Sie waren alle tot. Außer mir natürlich." Galantheas Stimme wurde schwermütig. "Aber alle anderen ... All die, die mir bis zu diesem Zeitpunkt am Herzen gelegen hatten ..."


Die Flammen des Lagerfeuers spiegelten sich in ihren großen, blauen Augen, als sie in die gaffenden Gesichter ihres spontan zusammengekommenen Publikums sah: eine Gruppe von Zwergen, ein Halblingsschneider, ein Händler, ein Soldat und ein paar Kollegen aus Oxenfurt. Keiner von ihnen sah aus, als wolle er ihre Geschichte unterbrechen, also fuhr sie fort:


"Wir zogen gerade durch das Land, auf unserer gewohnten jährlichen Reise durch die Anwesen, Tavernen, Bordelle – wo auch immer jemand genug Geld hatte, um für etwas Unterhaltung aufkommen zu können. Es geschah an einem kalten, frühen Morgen, als dichter Nebel uns umgab und den Wald um uns herum aussehen ließ, als sei er nicht aus dieser Welt. Eigentlich ein wunderschöner Anblick. Auf dem vordersten Wagen verhielten sich ein paar Schauspieler ziemlich ausgelassen. Joel und Elba. Sie machten laut Witze und waren immer noch betrunken von der vergangenen Nacht. Ich kann mich noch genau daran erinnern, denn in jenem Moment kamen sie." Sie hielt inne, um die Spannung anschwellen zu lassen. "Die fliegenden Schrecken."


Die Augen des Halblingschneiders weiteten sich gebannt. Einige Zwerge schüttelten den Kopf und fluchten leise in ihre Bärte. Die anderen jedoch wandten sich wieder ihrem Met zu und grummelten einander etwas zu, denn sie interessierten sich nicht für Monstergeschichten – solche Angriffe geschahen recht häufig und die Zwerge hatten ähnliche Geschichten schon etliche Male gehört.


"Plötzlich veränderte sich die Stimmung im Wald. Die Vögel verstummten, selbst die leichte Brise erstarrte. Der Nebel wurde dichter und bedrohlicher – seine geisterhaften Finger huschten durch die Bäume und breiteten sich über die Lichtung aus. Sie verschlangen uns. Innerhalb weniger Augenblicke waren wir alle von dichtestem Nebel umringt und ich sah nichts als eine weiße Wand vor meinen Augen. Nichts. Keine Menschenseele.


Ein paar der anderen fanden es zu Beginn noch witzig – ich konnte sie lachen hören. Doch das hielt nicht lange an. Ein angsterfüllter Schrei ließ ihr Gelächter verstummen, gefolgt von einem markdurchdringenden Kreischen. Und dann noch eins. Schatten schossen durch den Nebel über unsere Köpfe hinweg und umzingelten uns. Schnell sprang ich vom Wagen und kroch unter ihn, um mich zu verstecken. So kauerte ich also im kalten Schlamm und hörte tatenlos zu, wie all meine Freunde starben. Ihre albtraumhaften Schreie, als sie einer nach dem anderen geschnappt wurden. Und ich konnte nichts tun – denn ich war nur ein Kind."


"Wie bist du entkommen?", fragte der Soldat voller Ungeduld, weil er das Ende der Geschichte hören wollte.


"Hey, Mund halten. Lass das Mädchen ausreden", fuhr ihn ein Zwerg an.


Sie nickte ihm dankbar zu und warf ein paar Ästchen in die Flammen. "Ich konnte meine Freunde nicht mehr hören. Nur noch das grauenhafte Krächzen aus der Höhe, während ich weiterhin vor Angst gelähmt in meinem Versteck lag. Und dann – bumm! Etwas landete auf dem Wagen und kauerte auf seinem Rand. Vor meinen Augen senkte sich ein langer, geschuppter Schwanz herab, und gleich über meinem Kopf hörte ich ein kehliges Knarzen. Ich habe noch nie an irgendwelche Götter geglaubt, aber in diesem Moment der Verzweiflung betete ich. Und prompt durchdrang ein Blitzschlag den Nebel und unzählige Farben wirbelten auf den Wagen zu. Mit einem ohrenbetäubenden Schrei fiel der Schwanz zu Boden – abgetrennt vom dazugehörigen Rumpf. Um mich herum verwandelte sich das Krächzen überall in hilflose Schreie und panisches Kreischen. Im Nebel explodierten die fliegenden Schatten zu blutigen Fetzen und der Geruch von angesengtem Fleisch erfüllte meine Nase und brachte mich zum Würgen. Einer der geflügelten Dämonen fiel vom Himmel und stürzte auf die blutdurchtränkte Erde. Sein grotesker Körper war verbrannt und qualmte, er wandte sich schreiend und versuchte vergebens, sich wieder in die Lüfte zu erheben, bevor er leblos in sich zusammenfiel. Und dann erschien er im Nebel – der Mann, der mir das Leben gerettet hatte."


"Hm!" Eine Gestalt in langem Mantel, die sich gegen einen Baum etwas entfernt vom Feuer gelehnt hatte, grunzte und spuckte dann verächtlich auf den Boden. Galanthea warf dem Mann mit der Kapuze einen kurzen Blick zu, entschloss sich dann aber, sein flegelhaftes Verhalten zu ignorieren und ihre Geschichte zu Ende zu erzählen.


"Als alle Kreaturen erschlagen waren, stand mein Retter nun also ruhig und beherrscht vor mir. Energie knisterte um seine Fingerspitzen, als er das Blut der Monster von seiner Klinge wischte und das Schwert in die Scheide steckte. Sodann kniete er vor mir nieder und tröstete mich in einer schallenden, doch lieblichen Stimme: "Hab keine Angst, meine Kleine. Du bist jetzt in Sicherheit."


Genau so geschah es. An jenem verfluchten Tag, in diesem dichten Nebel, umringt von den Leichen meiner Lieben, als alle Hoffnung verflossen war ... wurden meine Gebete erhört. Aber nicht von einem Gott, oh nein." Galanthea strahlte. "Sondern von einem berühmten Magier namens ... Alzur."


Kapitel 2


"Deswegen gabst du ein Leben als Bardin auf? Hast den Namen Schneeglöckchen abgelegt?", fragte sie der Halblingsschneider.


"Nein. Um Himmels Willen, nein!", antwortete Galanthea. "Das war der Zeitpunkt, an dem ich erst anfing!"


"Warum hast du dann aufgehört? In deinem Alter hättest du bereits Hunderte von Balladen schreiben können. Vielleicht sogar Tausende!"


Galanthea neigte ihren Kopf zur Seite und überlegte. Diese Frage wurde ihr schon oft gestellt, seit sie ihre Fiedel an den Nagel gehängt hatte. "Weil sich das Leben verändert, mein Freund. Und wenn sich das Leben verändert, sollte man sich mit ihm verändern."


Der Halbling kräuselte die Lippen. Er war sichtlich unzufrieden damit, dass sie seiner Frage auswich. Dennoch nickte er zögerlich mit dem Kopf.


"Erzähl uns mehr von diesem berühmten Magier ...", bat sie der Soldat, der sich nun nach vorne lehnte.


"Von wegen berühmt!", rief ein Mann aus den hinteren Reihen, der bis zu diesem Zeitpunkt wenig Interesse an Galantheas Geschichte gezeigt hatte. "Wohl eher verrufen! Der Mann ist ein Rebell und ein Verrückter. Auf seinen Kopf ist sogar ein Preis ausgesetzt! Jemand wie der ist sicherlich kein heldenhafter Retter in Not."


"Hey! Pass auf, was du sagst, Freundchen!" Der Zwerg kam erneut zu ihrer Verteidigung. "Immerhin hat er dieses Mädel gerettet. So ein schlechter Kerl kann er nicht sein."


"Aber warum sollte er so was tun?!", unterbrach ihn der Händler mit wedelnden Armen. "Warum sollte er irgendein Kind retten – nichts für ungut –, wenn ein Zauberer doch gewiss wichtigere Dinge zu tun hat? War er einfach nur zufällig in der Gegend? Hat er sich einfach gedacht, dass er helfen könnte, wenn er sowieso schon da ist? Klingt ziemlich weit hergeholt, wenn ihr mich fragt."


"Nur gut, dass niemand gefragt hat. Und nutz doch mal dein Hirn!", fuhr ihn der Zwerg an. "Magier sind allsehend! Und sie können sich teleportieren! Von einem Augenblick zum anderen können sie überall auftauchen. Das weiß doch jeder Idiot."


"Da hast du wohl recht. Nur ein Idiot könnte vermeinen, so etwas zu wissen. Aber darum geht es doch gar nicht. Die Frage ist doch das Warum, nicht das Wie. Also frage ich erneut ... warum sollte er sie retten?"


"Helden machen das nun mal so, nicht?", rief ein anderer Zuschauer.


Galanthea lächelte und nippte an ihrem Wein. Sie hatte hitzige Debatten schon immer gemocht und war sich gänzlich bewusst, dass es sich um ein heikles Thema handelte.


"Genau! Helden helfen Leuten in der Not!"


"Als ob! Magier sind kühl. Kalkulierend. Was interessieren die sich schon für unsere Probleme? Was bringt es denen schon, uns zu helfen?"


"Vielleicht hat er die fliegenden Kreaturen gejagt, weil er Zutaten von ihnen braucht oder so?"


"Quatsch, dafür haben die doch ihre Lehrlinge."


"Vielleicht macht es ihm einfach Spaß? Eine Art makabrer Zeitvertreib ..."


"Protzerei!" Eine schroffe, verächtliche Stimme hallte durch das gesamte Lager und brachte die Diskussion umgehend zum Erliegen. "Und verdammter Stolz!" Die versammelten Reisenden wandten sich zeitgleich dem mit einem Mantel bedeckten Mann zu, der sich noch immer am Rande des Lagers aufhielt und an einer alten Eiche lehnte. Es war das erste Mal, dass er sprach, seit er sich der Karawane bei Wyzima angeschlossen hatte. Die meisten Anwesenden hatten ihn für einen Stummen gehalten – oder für schlicht gestrickt. Ihre Augen ruhten nun erwartungsvoll auf dem Mann. Sie warteten darauf, dass er auf seine plötzliche Unterbrechung weitere Worte folgen ließ. Doch ihre Erwartungen blieben unerfüllt. Er stand schweigend und regungslos in den Schatten.


"Ich glaube ... ähm ...", stammelte der Halbling, um die unangenehme Stille zu unterbrechen. "Verzeihung. Ahem. Ich denke, er wollte sich beweisen. Alzur. Er wollte edel erscheinen. Wie ein Ritter."


"Ach, ist das so?", erwiderte Galanthea neugierig. "Und wie bist du zu diesem Schluss gekommen?"


"Wie es der Zufall so will, arbeitete einer meiner Vorfahren auf dem gleichen Anwesen, in dem Alzur aufgewachsen ist." Er wischte sich seine schweißbedeckten Augenbrauen mit einem alten Tuch ab. "Manchmal haben wir Geschichten von früher gehört. Geschichten aus der Vergangenheit. Als ich aufgewachsen bin, erzählte man viele–"


"Ja, ja! Schon verstanden", unterbrach ihn Galanthea. "Komm auf den Punkt."


"Ja. Natürlich. Tut mir leid. Also ... Ähm ... Alles begann mit einem unerwarteten Kind ..."


Kapitel 3


"Nein, nein, nicht diese Art von unerwartetem Kind! Tut mir leid, schlechte Wortwahl. Ich meinte eher eine ... Bastard-Überraschung. Denn als Alzur noch ein Baby war, ließ man ihn auf der Schwelle eines edlen Anwesens unweit von Maribor zurück. Bei ihm lag nur ein Zettel mit diesen Worten: Seine Mutter ist gestorben – er ist einer von euren."


Der Schneider sprang von dem gefällten Baumstamm, auf dem er gesessen hatte, und umkreiste dramatisch gestikulierend das Lagerfeuer, als wolle er einen Erzähler im Theater imitieren.


"Die Leute munkelten, dass seine Mutter eine Kurtisane aus dem verruchten Haus in der Nähe sei. Doch die sogenannten Adligen des Anwesens waren allesamt für ihre Verderbtheit bekannt, sodass nie jemand erfuhr, welcher von ihnen wirklich der Vater war. Aber keiner der Männer wagte es, die vermeintliche Frucht seiner Lenden den Wölfen vorzuwerfen, und man einigte sich darauf, den Jungen aufzunehmen. Doch die Geschichte ist keine fröhliche. Denn aus Angst, jemand könnte es als Schuldeingeständnis sehen, wagte es keiner der potenziellen Väter, dem Kind auch nur den kleinsten Funken Zuneigung zu zeigen. Nur die Hofdamen hatten Mitleid mit dem armen Jungen und sorgten für ihn. Doch Mitleid ist ein schlechter Ersatz für Liebe.


Obendrein wurde er von seinen Geschwistern ob seiner Herkunft verspottet. Also verbarg er sich am liebsten in der Bibliothek. Er las tagein, tagaus, gefangen in wundersamen Welten und epischen Geschichten von mächtigen Helden. Besonders ein Band hatte es ihm angetan. Jede Woche las er ihn aufs Neue. Ein Handbuch der Rittertugenden von ... Ritter Mateo von Metinna, wenn ich mich recht erinnere. Der Junge war fasziniert von den Heldentaten der edlen Ritter, deren Tapferkeit auf ihren Tugenden gründete ...


Unaufhörlich lief er durch das Anwesen und die umgebende Landschaft, immer auf der Suche nach Prüfungen, um seine Tugenden unter Beweis zu stellen – Ehre, Mitgefühl, Großzügigkeit und so weiter – wie die Ritter der Vergangenheit. Er half, wo immer er konnte. Hoffnungslos auf der Suche nach Anerkennung.


Allein die Tapferkeit blieb ihm verborgen, denn er war ja noch ein Junge. Wie sollte er die Tapferkeit der mutigen Ritter aus seinen Geschichten erlangen? Hm?


Nun, eines Tages – Alzur war gerade auf dem Weg zum Markt, um Besorgungen zu machen – stieß er auf einen Wagen mit Banditen. Jeder andere Junge wäre davongerannt und hätte um Hilfe gerufen. Aber nicht Alzur. Endlich wollte er seinen Mut beweisen. Kühn trat er den Banditen entgegen ...


Stunden später fand man ihn bewusstlos und blutüberströmt am Straßenrand. Er hatte mächtig Prügel eingesteckt, und es dauerte Wochen, ehe er sich erholt hatte! Aber er wurde wieder gesund. Zur Überraschung aller entmutigte ihn die Begegnung keineswegs. Im Gegenteil, sie befeuerte seine Entschlossenheit, sich der Welt zu beweisen! Nur wartete er diesmal nicht auf die nächste Gelegenheit, sondern machte sich gezielt auf die Suche nach Ärger.


Wieder fand man ihn halb totgeschlagen in einem Graben! Und wieder wuchs seine Entschlossenheit. So ging es weiter. Er wurde verprügelt. Und erholte sich wieder. Es wäre wohl ewig so weitergegangen, doch eines Tages geschah etwas Unerwartetes.


Alzur wurde wieder einmal vermisst, und die adligen Männer machten sich auf Drängen ihrer Frauen zähneknirschend auf die Suche. Doch als sie ihn schließlich wieder aufspürten, fanden sie kein verprügeltes Kind vor. Oh nein, er war unversehrt, stand schokstarr in einer Gasse und starrte fassungslos auf die Leichen der drei grobschlächtigen Kerle, die vor ihm aufgestapelt lagen, ihre Haut verkohlt.


Es stellte sich heraus, dass Chaos durch seine Adern floss. Eine große Macht hatte in ihm geschlummert und war kurz zuvor entfesselt worden. Er war in der Lage, Magie zu bündeln ... aber konnte sie noch nicht kontrollieren. Aus Angst um ihre Sicherheit riefen die Männer seiner Familie einen mächtigen Magier zu Hilfe, der den Jungen unterstützen sollte. Und das tat er. Mit Geduld und Führung machte er einen berühmten Zauberer aus ihm – genau den, über den wir hier sprechen.


Ich glaube, dass ihn seine Kindheit bis heute beeinflusst; er legt nach wie vor großen Wert auf die Tugenden, die ihn vor all den Jahren inspirierten. Deshalb wollte er die Lage wie üblich retten.


Jedenfalls glaube ich das ..."


Einige der Mitreisenden murmelten vor sich hin, um einander eifrig ihre Meinung kundzutun. Doch der Lärm versiegte schnell, als Galanthea die Stimme hob. "Ein interessanter Bericht." Sie machte eine Pause und tippte nachdenklich gegen ihren Kelch. "Ich sehe es genauso. Unsere Kindheit spielt eine große Rolle dabei, wie wir unser Leben gestalten, aber ich glaube nicht, dass es nur ritterliche Tugenden sind, die Alzur antreiben. Ich glaube, da ist was viel Mächtigeres im Spiel. Nichts Geringeres als die mächtigste Kraft auf der ganzen Welt ..."


"Aha, und was soll das sein?", fragte der Zwerg.


"Die Liebe."


Kapitel 4


"Liebe?!", rief der Kaufmann. "Das ist doch ein Haufen gequirlte Scheiße! Liebe?! Wir sprechen hier von dem Mann, der einfach nur zum Spaß die Hälfte von Ellanders Armee abgeschlachtet hat!"


"Richtig, aber ich habe aus gutem Grund das Wort 'Liebe' gewählt", versicherte ihm Galanthea. "Ich sage 'Liebe', weil ich etwas herausgefunden habe, als ich Alzur zum zweiten Mal traf ... oder besser gesagt, als er mich zum zweiten Mal rettete. Ein glücklicher Zufall", sagte sie und lachte. "Dieser fing allerdings damit an, dass ich mir dank eines unsäglichen Schicksalsschlags einen Fluch einfing. Oh ja! Ein Fluch, der sich seltsamerweise mit meinem musikalischen Talent vereinte."


Der Halbling blickte erstaunt drein. "Daher hast du also deine Fidel an den Nagel gehängt!"


"Nein, nein. Ganz im Gegenteil. Der Fluch hat meine mittelmäßigen Melodien in himmlische Hymnen verwandelt. Der Haken dabei war allerdings, dass ich nur noch singen konnte", erklärte sie. "Wenn ich den Mund öffnete, um zu sprechen, entwichen meinen Lippen ausschließlich Lied und Reim."


Einige der Reisenden schnaubten amüsiert. Sie waren sich sicher, dass Galanthea ihnen eine Lügengeschichte auftischte.


"Zunächst fand ich es noch recht amüsant. Die Vergütungen für meine Auftritte waren auch recht beachtlich. Doch mit der Zeit wurde der Fluch ziemlich lästig. Jeden Tag sprach ich durchgehend nur in Liedern. Wenn ich auch nur ein einziges Wort vor mich hin murmelte, konnte ich nicht verhindern, dass darauf sofort ganze Verse folgen. Schließlich hatte ich mich dazu entschlossen, mir Hilfe zu suchen. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war ein besonders peinliches Ereignis. Ich besuchte eine Beerdigung und traf die unkluge Entscheidung, mich nach ..." Ihre Wangen erröteten leicht. "... nach einem Ort zu erkundigen, an dem ich mich erleichtern könne. Ich bin seitdem nicht mehr dort gewesen, damit ich diese Scham nicht erneut durchleben muss." Bei dem Gedanken lief es ihr kalt den Rücken herunter. "Einige Monate verstrichen, ohne dass ich Fortschritte machte. Doch dann erbarmte sich das Schicksal meiner erneut. Ich übernachtete in dem gleichen Gasthaus, in dem sich auch ein gewisser Magier aufhielt ...


Ich berichtete Alzur von meiner Notlage, in der Erwartung, dass er mir bereitwillig helfen würde. Aber dem war nicht so. Er sagte mir, dass er sich wichtigeren Dingen zuwenden müsse. Ich solle einen anderen armen Tropf finden, der sich meiner 'Wahnvorstellungen' annehmen will. Aber ich bin hartnäckig geblieben. Zu dem Zeitpunkt war ihm meine unnachgiebige Ausdauer wohl noch nicht bekannt. Also habe ich sie ihm vorgeführt ... mit drei ganzen Tagen voller Gesang. Jede Ballade, jedes Schlaflied und jedes Gedicht, die mir in den Sinn kamen, gab ich zum Besten. Er hat selbstverständlich versucht, mich mit seiner Magie zum Schweigen zu bringen, doch das erwies sich als vergeblich. Der Fluch war unerbittlich. Schließlich gab er nach und willigte ein, sich meines Problems anzunehmen, unter der Voraussetzung, dass ich meinen Mund halte."


"Und was hat das alles jetzt mit Liebe zu tun?!", fragte der Soldat ungeduldig.


"Wir sind zu der Stadt gereist, in der mir der Fluch auferlegt wurde, und übernachteten unterwegs in mehreren verschiedenen Gaststätten. Eines Nachts blieb Alzur mit einigen Männern aus dem Dorf wach, um zu trinken und zu würfeln. In dem Alter war ich noch ziemlich neugierig, also entschied ich mich, die Gelegenheit zu ergreifen und seine Sachen zu durchsuchen. Zwischen den vielen seltsamen Gegenständen fiel mir ein Objekt ganz besonders ins Auge: ein blumenförmiges Medaillon. Eine Lilie, wie sich herausstellte. Und ... Ich habe es anprobiert ... Genau in dem Augenblick, als Alzur hereinkam ...


Er verfiel sofort in Rage und schrie mich an. I war schockiert ... und verwirrt. Es ging immerhin nur um ein einfaches Schmuckstück und es war nicht so, als hätte ich es beschädigt." Sie grinste. "Was für einen Unterschied Sentimentalitäten machen können, war mir in dem Alter wohl noch nicht ganz bewusst. Nach einer kurzen Weile beruhigte er sich wieder und entschuldigte sich sogar für seinen Ausbruch. Er roch nach Alkohol, setzte sich vor das Feuer und starrte in die Flammen. Sein Zorn wich und Trauer machte sich auf seinem Gesicht breit. Dann geschah etwas, womit ich nie gerechnet hätte. Er öffnete sich mir gegenüber.


Er erzählte mir, dass er das Medaillon vor vielen Jahren für jemanden gefertigt hatte, die ihm sehr nahestand. Er hatte es sogar verzaubert, um sie zu beschützen. 'Lylianna', flüsterte er. Voller Zuneigung erzählte er von ihr und gedachte ihr in seiner Trunkenheit. Er sprach davon, wie sehr er ihre Ambitionen bewunderte. Soweit ich ihn verstand, war sie besessen von der Idee, eine sichere Welt zu schaffen. Eine Welt, in der es keine blutrünstigen Monstrositäten gibt, die den Menschen hinter jeder Ecke auflauern. Eine sehr gewagte Idee, so viel steht fest. Ihr ganzes, bedauerlicherweise recht kurzes Leben hatte sie diesem Ziel gewidmet.


Er hat mir nicht erzählt, wie sie ihr Leben ließ, und verlor sich eine Weile lang schweigend in seinen Gedanken. Ich konnte ihm die Betroffenheit allerdings von den Augen ablesen." Galanthea hielt kurz inne und schwelgte in der Erinnerung. "Das Wort 'Liebe' ist zwar nie gefallen, aber so, wie er von ihr gesprochen hat ... und der Ausdruck auf seinem Gesicht, als er sich an sie erinnerte ... Dafür gibt es keine andere Erklärung."


"Das sehe ich ein", gestand der Halbling. "Moment mal ... hat – hat er sich etwa ihrer Arbeit verschrieben? Nachdem sie gestorben ist? Das hat er, nicht wahr?!"


"Davon bin ich überzeugt, ja. Verpflichtungen gegenüber den Verstorbenen lassen sich nicht einfach vergessen."


"Wahres Wort!" Der Zwerg sprang auf und wandte sich dem Kaufmann zu. "Deswegen rettet er wahrscheinlich Leute vor Monstern! Damit sollte Eure Frage wohl beantwortet sein, nicht wahr, 'werter Herr'?" Ha!"


Der Kaufmann ignorierte den Provokationsversuch. "Aber – aber wie will er ihre 'Arbeit' überhaupt fortgesetzt haben? Ein Mann, der über den Kontinent streift und im Namen seiner verlorenen Liebe Monster abschlachtet, kann alleine wohl kaum etwas gegen die riesige Menge der Kreaturen ausrichten."


"Alleine? Meine Güte, natürlich nicht", antworte Galanthea mit einem verstohlenen Lächeln. "Er ist ganz und gar nicht alleine ..."


Kapitel 5


"... Hexer!", rief der Soldat. "Sie redet über Hexer!"


"Wie bitte?", fragte der Kaufmann und goss sich beiläufig noch etwas aus einem schafledernen Behälter ein.


"Hexer. So nennt man die, wenn ich mich recht erinnere." Der Soldat kratzte sein stoppeliges Kinn. "Also, stell dir ... einen Söldner vor, der aber mit Magie verbessert wurde. Verflixt stark und schnell, wie es kein normaler Mensch ist. Man sagt, sie ziehen allein von Ort zu Ort und verdingen sich als Monstertöter."


"Klingt für mich nach Geschwätz."


"Ach ja? Was weißt du denn schon?"


"Du hast das Wort 'Söldner' benutzt, stimmt's? Tja, ich kenne da zufälligerweise wen, der sicherlich mehr dazu sagen kann." Er deutete auf den Mann im Mantel, der abseits im Schatten saß. "Tatsächlich ist er selbst ein Söldner. Nun, wohl eher ein Halsabschneider. Habe ich nicht recht, Halsabschneider?"


Der Angesprochene spuckte, woraufhin der Kaufmann lachen musste.


"Zugegeben, er ist nicht gerade ein feiner Herr, aber wenn es ums Töten geht, kann er einen ziemlichen Ruf vorweisen – und wie es der Zufall will, konnte ich dieses Talent mit eigenen Augen miterleben. Ich habe einen Aufpasser gesucht, der auf der Reise nach Maribor für meine Sicherheit sorgt, also habe ich für ihn ein paar Münzen springen lassen. Du bist schon ein Schnäppchen, nicht wahr?" Stille hing in der Luft. "Doch ich schweife ab. Halsabschneider! Als Experte im Feld der schwertschwingenden Tagelöhner hast du doch sicher auch eine Meinung zu diesen 'außergewöhnlichen Monstertötern', oder?"


Der Mann im Mantel neigte den Kopf und dachte einen Moment lang nach. "Die töten irgendwelche Bestien ... na und? Daran ist nichts besonders. Sind doch nur Märchen, die man Kindern erzählt."


"Da haben wir unsere Antwort!", verkündete der Kaufmann mit einem schmierigen Grinsen. "Märchen!"


"Nein, Quatsch! Ist nicht wahr. Ich hab Geschichten von vertrauenswürdigen Männern gehört. Jeder einzelne von denen hat genau das Gleiche erzählt. Wie kann es sein, dass sie alle dieselbe Lüge erzählen? Verrate mir das mal!"


"Täuschungen verbreiten sich schnell, mein Freund. Und das meist noch schneller als die Wahrheit."


Der Soldat schüttelte mit dem Kopf. "Ach, Quatsch ..."


"Hör mal, ich sage ja nicht, dass deine Kumpel keine tapferen Männer beim Monstertöten gesehen haben – ich will wirklich niemandes Kampfgeschick in Frage stellen. Aber diese 'magisch modifizierten Soldaten' sind kompletter Blödsinn. Das musst du doch zugeben. Und selbst wenn ... wenn ..." Der Kaufmann sprang vom Baumstumpf auf, griff sich einen Stein und warf ihn nach einigen Ratten, die am Rand des Lagers entlang huschten.


Die Nager fauchten aufgebracht und suchten das Weite im Unterholz.


"Also, wo war ich? Ach ja: Selbst diese, diese 'Hexenmänner' ..."


"Hexer! Ich hab's doch eben gerade gesagt!"


Der Kaufmann wedelte mit den Armen. "Ja, ja! 'Hexer'! Selbst, wenn es sie gibt – wie du und deine Kumpanen behaupten –, brauchen wir sie denn überhaupt? Stellen die Monster denn solch eine Bedrohung dar? Sicher, der ein oder andere Unglückselige wird von ihnen getötet, aber diesen Leuten mangelt es meist an Verstand, nicht wahr? Diese unwissenden Narren verlassen die ausgetretenen Wege und finden sich dann mitten im Nirgendwo in irgendeinem modrigen Sumpf wieder."


"Das ist doch unglaublich! Der blanke Hohn!", rief der Zwerg.


"Oh, ich spreche die Wahrheit! Du hast kein Geld, um für eine sichere Reise zu bezahlen? Dann bleibst du schön dort, wo es sicher ist. Zu arm oder geizig, um dir einen guten Begleitschutz zu leisten, wie ich es getan habe? Dann solltest du vielleicht nicht in der Landschaft umherirren. Außerdem tun uns die Monster wahrscheinlich einen Gefallen, wenn man so darüber nachdenkt ... Sie befreien uns im Grunde vom Bodensatz der Gesellschaft. Sorgen für eine natürliche Auslese."


Der Soldat unterdrückte zähneknirschend seine Wut. "Und was macht dich so besonders?"


"Hast du nicht aufgepasst? Oder bist du vielleicht schwerhörig?" Er nickte in Richtung des Halsabschneiders, der nun am Rande des Lagers entlanglief. "Wie bereits gesagt – ich habe klugerweise einen ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb und bin deshalb gut auf alles vorbereitet."


"Du solltest dich mal besser auf eine ordentliche Ohrfeige vorbereiten, wenn du nicht dein Mundwerk zügelst!", fauchte der Zwerg.


"Ruhe!", raunte der Halsabschneider. Er stand komplett still, hatte den Kopf in Richtung der Dunkelheit geneigt, die das Lagerfeuer umgab, und konzentrierte sich auf etwas. "Seid leise. So spät in der Nacht solltet ihr keinen Lärm mehr machen." Er hatte die Hand an den Knauf seines Schwertes gelegt und entfernte sich nun achtsam vom Lager.


"Entschuldigung", rief ihm der Kaufmann hinterher. "Wo gehst du bitteschön hin? Halsabschneider?!" Der Halsabschneider verschwand ungerührt und ohne ein weiteres Wort in der tiefschwarzen Wildnis.


"Er hat recht", sagte Galanthea. "Es ist schon ziemlich spät und mein müder Körper braucht Ruhe." Sie rappelte sich auf und ging zu ihrem Zelt. "Wir haben einen langen Tag vor uns."


"Wohl war", murmelte der Zwerg und trank den Rest seines Mets. "Das haben wir wohl."


Nach einer Stunde lag jedes Mitglied der Gruppe auf seinem Nachtlager und schlummerte tief – selbst derjenige, der als Wache eingeteilt worden war ...


... Und ganz in der Nähe, zwischen all der Finsternis, funkelten zwei rote Augen im bleichen Mondlicht.


Kapitel 6


Kehliges Schnarchen hallte durch das Lager, begleitet vom leisen Knistern des erlischenden Lagerfeuers. Hoch am Himmel suchte sich das Licht des Vollmonds seinen Weg durch die aufziehenden Wolken und ließ alles, was nicht von der Glut erhellt wurde, wie ein unheimliches Schwarz-Weiß-Bild erscheinen.


Eines der Zelte raschelte. Der Kaufmann, dem die Schläfrigkeit deutlich anzusehen war, stolperte daraus hervor. Er erblickte den Umriss eines großen Baumes am Rande des Lagers und er machte sich auf den weg dorthin. Dabei musste er den Reisenden ausweichen, die sich um das Feuer herum schlafen gelegt hatten.


Sobald er ein abgelegenes Plätzchen in der Dunkelheit gefunden hatte, öffnete er seine Hose und erleichterte sich ...


QUIEK!


Der Kaufmann schwankte und Urin landete auf seinen Füßen, als er sich in Richtung des Geräuschs drehte. "Verflucht!"


Eine Ratte saß auf einem nahen Baumstumpf und starrte den Kaufmann an. Sie gab Laute von sich, die wie die Imitation eines Lachens klangen.


"Du kleines Mistvieh!", kreischte der Kaufmann und bewarf das Nagetier mit einer Handvoll Steine. "Husch!"


Die Ratte war von dem Bombardement gänzlich unbeeindruckt, blieb an Ort und Stelle und schnatterte trotzig.


"Oh, ja!", sagte der Kaufmann und sah sich um. "Ich werd's dir verdammt noch mal zeigen, du mieses ... ah, da bist du!" Er nahm einen großen Stein in die Hand und warf ihn auf das Tier. "Sag. Nicht. Ich. Hätte. Dich. Nicht. Gewar– HUAH!" Er schleuderte den großen Stein, doch der Nager sprang davon und verkroch sich im nahen Gebüsch.


"Ha!", rief der Kaufmann mit einem selbstgefälligen Grinsen aus. "Das sollte dir eine Lehre ..."


QUIEK, QUIEK!


Der Kaufmann fuhr auf und wirbelte herum. Hinter ihm befand sich eine ganze Rattenmeute.


"Woher im Namen aller ..."


QUIEK! QUIEK! QUIEK!


Immer mehr Ratten huschten aus dem Unterholz hervor und umzingelten ihn.


"W-w-was zum ...", krächzte er.


Ein Meer aus winzigen, im Mondlicht funkelnden Augen starrte ihn an.


"Halsabschneider?", flüsterte er. "Halsabschneider ... w-w-wo b-bist ..."


Langsam verdichteten sich die Schatten um den Kaufmann, bis sie auch über ihm waren und den Mond verdeckten. Zitternd drehte er sich um – "Halsabschneider?" –, nur um sich einem roten Augenpaar, das ihn von oben anblickte, und einem geifernden Maul voller riesiger Nagezähne gegenüberzusehen.


Der Kaufmann konnte gerade noch ein angsterfülltes Wimmern von sich geben, bevor ihm die Kehle aufgerissen wurde.


Eine ganze Rattenarmee tummelte sich nun im Lager und trieb die Reisenden aus ihren Zelten und von ihren Schlafplätzen, in all dem Chaos wurde wild durcheinandergerufen.


Jemand schrie auf, als die zerfetzte Leiche des Kaufmanns durch die Luft wirbelte und in der Mitte des Lagers landete. Nun tauchte ein borstiger Behemoth aus dem Schatten, dessen muskulöser, vernarbter Körper einen wirklich bedrohlichen Anblick bot. Er gab ein Brüllen von sich, in dem gleichzeitig ein rattenartiges Fiepen mitklang, und fegte mit seiner Pranke mühelos den angreifenden Zwerg weg, der so quer durchs Lager in die Dunkelheit geschleudert wurde.


Der Blick der Riesenratte zuckte umher und fiel auf Galanthea, die gerade verwirrt aus ihrem Zelt krabbelte. Die Ratte fletschte die Zähne und stapfte knurrend und sabbernd auf sie zu.


ZACK!


Ein Armbrustbolzen grub sich in die Schulter des Monsters. Es kreischte auf, riss den hölzernen Bolzen heraus und ließ sein Maul aufgeregt zuschnappen, während es nach dem Angreifer suchte.


RUMMS!


Der nächste Bolzen traf seinen Brustkorb.


"Zurück!" Der Halsabschneider sprintete aus dem Dickicht, ließ die Armbrust fallen und zog sein Schwert. Die Klinge glänzte silbern, als er sie herumwirbelte.


Die Bestie brüllte und stürzte sich auf ihn. Der Halsabschneider hob sein Schwert, ging in Position und wartete bis zum letzten Moment ... Dann führte er eine Drehung nach links aus und traf den breiten Rücken des Monsters mit einem weiten Hieb, der Blutspritzer überall im Lager verteilte.


Darauf folgte eine blitzschnelle Kombination aus Schlägen, Finten und Kontern. Die heftig blutende Bestie schrie gellend auf, als der Mann im Mantel selbstbewusst den Ablauf des Kampfes bestimmte und seine Hiebe mit unglaublicher Geschwindigkeit und meisterhafter Präzision ansetzte.


Das von seinen vielen Verletzungen geschwächte Rattenungetüm stieß ein Heulen aus, ging in die Knie und kippte nach vorn, wobei es den Boden mit seinem Blut tränkte.


Der Mann hob sein Schwert – bereit, den Todesstoß auszuführen.


Einer der Umstehenden gab einen erschrockenen Laut von sich, als der Arm des Monsters nach vorn schnellte und seinen Gegner am Hals packte. Die Bestie knurrte und stand auf, wobei sie den Mann in die Höhe hob. Die Wunden ihres entstellten Körpers schlossen sich – zerteiltes Fleisch und zertrennte Muskeln wurden wieder heil. Das Schwert des Mannes entglitt seiner Hand, als er nach den pelzigen Pranken schnappte, die ihn im Würgegriff hatten.


Die Beobachter waren wie erstarrt, als sich der Halsabschneider in den Klauen der Bestie windete. Doch dann streckte er zum Erstaunen aller dem abscheulichen Gesicht des Nagetiers seine Hand entgegen und vollführte eine eigenartige Geste mit den Fingern.


Verheerende Flammen schossen aus seiner Handfläche und versengten das Monstrum, wobei es schwere Verbrennungen an Gesicht und Brustbein erlitt. Es brüllte heftig auf und griff sich an die Schnauze. Dabei ließ es den Mann los und stolperte nach hinten.


Plötzlich holte der Halsabschneider eine ledrige Kugel heraus, deren Lunte er mit einem Fingerschnippen entzündete, und schleuderte sie auf den jaulenden Behemoth.


Die Bombe zischte und sprühte Funken ...


KABUMM!


Die Werratte explodierte, und verbrannte Fleischstücke und Knochensplitter flogen durch die Luft.


Die verbliebenen Reisenden, die nun mit Blut und Innereien bedeckt waren, hatte die Ehrfurcht gepackt.


Jetzt ging der Halsabschneider zur zerfleischten Leiche des Kaufmanns, durchwühlte dessen Tasche und entnahm ihr ein Säckchen mit klimperndem Inhalt. Er blickte in die Gesichter der gaffenden Zuschauer, zuckte mit den Schultern und steckte die Münzen ein.


Der fassungslose Soldat stand mit offenem Mund da. Er richtete zitternd einen Finger auf den Mann im Mantel und brachte nur ein Wort hervor: "... Hexer."


Kapitel 7


Die Sonne schien erbarmungslos auf die Karawane herab, die auf der staubigen Straße nach Maribor unterwegs war. Am Ende des Konvois saß Galanthea hinten auf einem Wagen und beobachtete den Hexer aufmerksam, der sich ihr langsam hoch zu Ross näherte.


Sie grüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln. "Meinen tief empfundenen Dank für deine Dienste gestern Abend."


Ein wenig unwillig ob des Kompliments furchte er die Stirn und nahm ihren Dank mit einem kurzen Nicken zur Kenntnis.


Galanthea gluckste, als ihr ein Gedanke durch den Kopf schoss. "Indirekt war es wohl wieder einmal Alzur, der mich gerettet hat."


Der Hexer spannte den Kiefer an, und seine Nasenflügel bebten.


"Ist irgendetwas nicht in Ordnung, mein Lieber?", fragte sie. "Ich nehme an, du bist nicht zu mir gekommen, um dich in meinem Lob zu sonnen."


Er hielt kurz inne, um seine Gedanken zu sammeln. "Kanntest du Alzur überhaupt?"


"Oh ... Sogar besser als die meisten."


"Warum faselst du dann solchen Unsinn?" Er bewegte den Nacken und ließ die Knochen krachen. "Wahrscheinlich bist du nicht ganz dicht, hm? Oder vielleicht auch völlig blind."


Sie lächelte. "Wahrheiten sind nicht immer universell, mein Junge. Manchmal sind sie eine Frage der Perspektive."


Der Hexer grollte und ritt eine Weile schweigend neben ihr her. Dann schüttelte er frustriert den Kopf. "Redest du von Liebe ...?" fragte er abfällig. "Wenn er sich wirklich um seine Mitmenschen scheren würde, hätte er all das nie getan. Würde es nicht mehr tun."


"Möchtest du mir etwas sagen?" Galanthea musterte den Mann und unterdrückte ein Gähnen. "Letzte Nacht konnte ich nicht schlafen, wie du dir sicher vorstellen kannst, also komm zum Punkt, Junge ... Solange ich noch halbwegs wach bin."


"Hast du den Funken einer Ahnung davon, wie Alzur und seine Lakaien Hexer ... produzieren?"


"Nicht mit Liebe, nehme ich an ...?"


"Sie holen sich kleine Jungen. Von der Straße. Bezahlen die Eltern, wenn es sein muss. Sie tun, was immer nötig ist, um an frische Subjekte zu kommen. Es müssen nämlich Kinder sein, weißt du – das haben sie uns jedenfalls gesagt. Cosimo, der ältere Magier, dieser weißbärtige Bastard, hat immer irgendwelchen Mist über ... Formbarkeit geredet. Er und Alzur bezeichneten uns als nassen Ton, den man besonders gut formen kann. Verrückte Saftsäcke. Wer zu alt ist, den verbiegt das Leben, und irgendwann wird der Ton hart. Steinhart. Einen erwachsenen Mann umformen zu wollen, wird unmöglich, weil er daran zerbricht. Deshalb müssen Kinder her, und die werden dann dem Mutationsprozedere ausgesetzt – weil sie die Einzigen sind, die ihn überhaupt überstehen können. Und trotzdem zerbrechen die meisten daran." Der Hexer musterte aufmerksam Galantheas Reaktion. "Viele der Jungen, die ich kannte, liegen heute in flachen Gräbern."


Sie wich seinem Blick aus und betrachtete versonnen die Koppeln am Wegesrand.


"Richtig ... Kinderleichen sind fürwahr kein Stoff für Balladen."


Sie wandte sich wieder dem Hexer zu und schwieg eine Weile, die Augen voll Neugier.


"Wir mussten sie selbst begraben; zerschundene Körper, verzerrte Mienen – die Münder aufgerissen, so als schrien sie immer noch. Aber das eigentlich Schlimme an der Sache ist, dass sie die Glückspilze waren. Sie sind rechtzeitig entkommen. Der Rest von uns musste Alzurs zahlreiche 'Prüfungen' über sich ergehen lassen – jedenfalls nannte er es so. Als wären es Heldentaten, die wir uns ausgesucht hatten, um uns zu beweisen. So als hätten wir beschlossen, durch die Hölle zu gehen, nur damit der alte Sack zufrieden ist."


"Du sagst, er hat es für die Vision einer besseren Welt getan. Ich sage, drauf geschissen! Er hat es nur für sich selbst getan. Protzerei. Anderen helfen zu wollen, war nichts als ein vorgeschobener Grund. Hin und wieder hat er sogar Mitgefühl gezeigt. Aber nur, wenn er sich beobachtet fühlte. Zum Beispiel wenn die Narren vorbeikamen, die sein makabres kleines Projekt finanzierten. Ah, für die Adligen hat er sich ordentlich ins Zeug gelegt. Er wurde richtig gastfreundlich, wenn er uns seinen Gönnern vorgezeigt hat. Hat mit seinem Erfolg geprahlt. Und seiner Brillanz. 'Sehet, was der Große Alzur für euch hervorgebracht hat, verehrte Herren.' Arroganter Pisser." Der Hexer schnaubte. "Und wenn er sie zufriedengestellt hatte, verließen sie uns, und seine kalte Gleichgültigkeit kehrte zurück. Dann verzog er sich in seinen Turm. Dann sahen wir ihn nicht, bis die nächste Prüfung bereit war, und diese Prüfungen waren alles andere als fröhliche Anlässe. Nein ... Für diesen Bastard waren wir nichts als Mittel zum Zweck – um seinen Ruf aufzubauen. Und sein Vermächtnis zu sichern." Er machte eine nachdenkliche Pause. Seine Augen wurden glasig. "... Nichts als nasser Ton in der Hand, bereit, nach seinem Willen geformt zu werden."


Ein Moment verstrich.


"Ein interessanter Bericht, Hexer." Galanthea lächelte sanft. "Hast du je darüber nachgedacht, dich als Geschichtenerzähler zu versuchen?"


"Ja, spotte nur, aber jedes Wort ist wahr. Scheiß auf Perspektiven." Er zog die Nase hoch und spuckte verächtlich in den Staub. Dann hüllte er sich in grimmiges Schweigen.


Ihr nachdenklicher Blick ruhte auf dem Hexer, der immer noch neben dem Wagen her ritt.


"Weißt du ..." Sie überlegte kurz, um ihre Worte abzuwägen. "Ich bin wirklich dankbar, dass du gestern Abend bei uns warst. Ich wünschte, du würdest mir glauben."


Der Hexer zögerte kurz und nickte dann. "Ich sollte vorausreiten ... Falls unterwegs böse Überraschungen warten." Er blinzelte eine Erinnerung fort und umklammerte die Zügel – "Gute Erholung", rief er noch und ritt davon.


Kapitel 8


Galanthea lehnte sich entspannt zurück und sah in den wolkenlosen Himmel hinauf. Sie blinzelte und die Lider wurden ihr schwer, während sie dem rhythmischen Klappern der Hufe lauschte ...


... Hoch oben kreiste ein Schwarm Vögel. Einer von ihnen kreischte schrill. Sie kniff die Augen zusammen und erkannte, dass es sich keineswegs um Vögel handelte. Breite, zackige Schwingen flatterten über langen, schuppigen Schweifen. Die schrecklichen Kreaturen kamen näher und hielten auf die Karawane zu. Eines der Biester heulte auf, ehe es explodierte. Dann noch eins und noch eins. Blut und Innereien regneten zu Boden.


Alzurs Stimme erscholl aus der Nähe. "Fürchte dich nicht, Kleines. Du bist in Sicherheit."


Der scharlachrote Hagel verwandelte sich in klares Wasser, als er gegen die Wand eines Rathauses klatschte, aus dessen Fenstern warmer Lichtschein drang.


Drinnen husteten und keuchten ausgemergelte Leute, die in Grüppchen aus zitternden, wimmernden Männern, Frauen und Kindern zusammenhockten. Eine Gestalt mit Schnabelmaske und schwarzem, wachsbeschichtetem Mantel lief zwischen ihnen hin und her und stieß diesen und jenen mit seinem Stock an.


Auf einer provisorischen Bühne aus Kisten stand die junge Galanthea in der jungenhaften Tracht eines Troubadours, spielte die Fidel und trug den Siechenden ein fröhliches Lied vor. Die eingesunkenen Augen der Kranken glänzten vor Freude, die leidenden Fratzen zum bizarren Lächeln verzerrt.


Eine heisere, brüchige Stimme unterbrach die Andacht. "Oh, du armes Ding. Die Seuche steckt in dir. Ach, so tief."


Galanthea hörte auf zu singen und senkte das Instrument. Ihre Augen weiteten sich. Eine Ansammlung aus Leichen saß vor ihr, die nackten Körper welk und verrottet. Jeder von ihnen trug eine Schnabelmaske. Einer nach dem anderen fingen sie an zu krächzen und wurden immer lauter und lauter. Eine Sinfonie heiserer Krächzlaute übertönte alle anderen Geräusche.


Die Kerzen erloschen und tauchten den Raum in tiefes Schwarz und gruselige Stille.


"Der Tod lauert, und dein Licht vergeht." Zwei Augen funkelten in der Finsternis. "Aber fürchte dich nicht, Kind, denn die Alte Telma kann jedes Leid heilen."


Flammen loderten aus einem Ofen in der Mitte und erhellten das Innere einer kleinen Hütte. Überall im Raum lagen Plunder und Tand verteilt, und krächzende, nervös umherhüpfende Krähen zierten Regale und Dachbalken.


Die junge Galanthea, schmal und blass, hockte am Feuer und starrte die mit schwarzen Federn geschmückte alte Frau an, die ihr gegenübersaß.


"Einen Eid sollst du leisten, dein Lied sollst du singen." Sie bleckte die Zähne "Dann wird die Alte Telma dafür sorgen, dass du überlebst." Sie keckerte.


Die Herdflammen flackerten wild, spuckten Asche auf den Holzboden und leckten an den Wänden, ehe sie alles verschlangen.


Mitten auf einem abgeschiedenen Hain brannte lichterloh eine Hütte. Ein markerschütternder Schrei drang aus dem Inferno. "Kind! Was hast du getan!?"


Galanthea stand am Hainrand und beobachtete die Flammen mit Tränen in den Augen.


Alzurs Stimme hallte durch die Luft. "Ein einfaches Nicken reicht, Schneeglöckchen, dann ist es erledigt."


Eine Hand drückte ihre Schulter. Sie drehte sich zu Alzur um, dessen Gesicht und Brust blutbespritzt waren. Er kniete sich vor sie. Ein bösartiges Grinsen entstellte sein Gesicht. "Zwei für zwei." Er gluckste.


Feuer verschlang den Hain.


Das schreckliche Geheul erreichte seinen Höhepunkt ...


Galantheas Augenlieder klappten auf, und sie setzte sich aufrecht hin. Ein Schweißfilm bedeckte ihre Haut.


Nach Luft schnappend betrachtete sie ihre Umgebung und den Wagen, der angehalten hatte.


Aus der Nähe drangen die Geräusche eines Streits. Eine schrille Stimme tönte: "Wir machen keine Späße, klar? Los ... Tritt zurück!"


Sie sprang vom Wagen und erblickte ein Gasthaus am Straßenrand. Auf dem Holzschild stand: "Zum Doppelkreuz".


Galanthea lief um den Wagen herum. Die Karawane war von einer bunt zusammengewürfelten Truppe aus Männern und Frauen in Bauernkluft umzingelt, die allesamt mit rostigen Schwertern, Sensen und Mistgabeln bewaffnet waren. Mitten unter ihnen befand sich eine hoch aufgeschossene Frau, die mit einer Armbrust in Richtung eines Soldaten wedelte.


Er machte einen Schritt auf sie zu. "Komm schon, sei keine Närrin." Dann noch ein Schritt ... etwas zu aggressiv. "Ihr müsst nicht ..."


ZOCK.


Ein Bolzen löste sich und traf den Soldaten im Knie. Er grunzte und griff nach dem Schaft, ehe er zu Boden sackte. „Verdammte Mistratte!"


"I-i-ich hatte dich gewarnt", stotterte sie und ließ den Blick nervös über die Versammelten schweifen. "Keiner von euch versucht was, klar? Oder ... Ihr seht ja, was sonst passiert!", rief sie und legte hastig einen neuen Bolzen an. "Hat jemand ein Problem damit?"


Keiner der Reisenden antwortete.


"Gut!" Die Frau nickte einem ihrer Leute zu. "Bringt sie rein. Schafft sie mir aus dem Weg."


Kapitel 9


"So ein verdammtes Pech", knurrte der Zwerg, zündete eine Kerze an stellte sie und auf einem Fass in der Kellerecke ab.


"Sei vorsichtig mit dem Feuer", warnte der Halbling. "Sonst können wir uns gleich den Hintern anzünden."


"Ach, mach dir keine Gedanken. Meine Hände sind so ruhig wie Felsbrocken." Er zündete noch eine Kerze an und stellte sie auf ein Regal. "Wie lange bist du schon hier, Kumpel?", fragte er den Schankwirt, der auf einem Fass saß.


"Ach, noch nicht so lange. Erst ein paar Tage." Er ließ den Blick über die Reisegruppe schweifen. "Ihr seid die Ersten, die sie ..."


"Ausgeraubt haben?", unterbrach ihn der Zwerg.


"Ja. Tut mir leid. Nimm es nicht persönlich. Sie sind keine Banditen – nicht wirklich. Ich kenne die meisten von ihnen. Es sind alles Bauern und Hilfskräfte aus der Gegend. Aber ... diese verfluchte Dürre hält schon so lange an, und inzwischen sind die Leute verzweifelt. Hoffnungslos. Also improvisieren sie."


Der Soldat stöhnte jämmerlich, während Galanthea die Lumpen um sein blutiges Knie wickelte.


Staub rieselte von der Decke, als dumpfe Schritte über die Dielen ein Stockwerk höher hallten. Dazu gesellten sich Stimmen.


"Tut mir leid wegen eures Freundes. Ich bin sicher, sie haben es nicht so gemeint."


"Mach dir keine Gedanken. Er wird schon wieder. Stimmt doch, oder?"


Der Soldat grollte.


"Nur mit dem Soldatendasein ist es jetzt vorbei, was?" Der Zwerg gluckste. "Gewöhn dich schon mal an den Gedanken, nur noch Wachdienste zu übernehmen. Hehe!" Er zündete grinsend eine Öllampe an, die ein großes, an die Wand gelehntes Gemälde in warmes Licht tauchte. Auf der Leinwand war ein riesiges Schlachtfeld abgebildet. Auf der einen Seite ragten triumphierend schwarz-weiße Standarten in die Luft – die andere Seite zeigte eine angstvoll kauernde Armee unter einem gnadenlosen Feuerhagel. Unter den Siegern befand sich ein erhaben aussehender Magier mit stolz erhobenen Armen, umgeben von leuchtenden Runen.


"Die letzte Schlacht des Endlosen Krieges", erklärte der Schankwirt. "Das Bild heißt 'Alzurs Doppelkreuz'. Hier kommen ... besser gesagt, kamen viele Leute aus Ellander durch, also haben wir es irgendwann von der Wand genommen und nach hier unten verfrachtet." Er kicherte. "Nur der Name der Schenke ist geblieben."


"Es ist also wahr?", hakte der Halbling nach. "Alzur hat Magie eingesetzt, um eine ganze Armee zu vernichten?"


Der Zwerg hielt die Lampe näher ans Bild. "Ja. Sieht so aus."


Wieder kam Staub von der Decke. Oben war scheinbar viel los. Die Stimmen wurden lauter.


"Du hast also von ihm gehört? Alzur?", fragte der Schankwirt.


"Die Leute erzählen allerhand Geschichten, ja." Der Zwerg betrachtete die brennende Armee aus panisch fliehenden, kreischenden Soldaten. "Sie hatten keine Chance."


Der Schankwirt sprang vom Fass und schlenderte zum Gemälde. "Das Bild zeigt es zwar nicht, aber angeblich hat er ein Portal geöffnet. Hat irgendeinen Zauber eingesetzt, um etwas furchtbar Mächtiges daraus zu beschwören ... wahrscheinlich aus einer anderen Welt. Die Leute erzählen sich, dass sich der Himmel auftat und ein Sturm aus wirbelndem Feuer übers Schlachtfeld hereinbrach. Aber es war kein Drache oder so was. Nein ... Es war viel schlimmer ..." Er strich sich über den Schnauzbart. "Was immer es auch war, es hat ihre Truppen gnadenlos vernichtet – eine vollkommene Niederlage. Ellander hatte keine Wahl – sie mussten sich ergeben; schon am nächsten Tag gaben sie den Thron von Wyzima an den Herzog von Maribor ab. Das war das Ende des Endlosen Krieges."


"Eine Schande ist das", knurrte der Zwerg, den Blick immer noch auf das Bild gerichtet. "Alles Schwindel. Schlachten sollten ehrenvoll geschlagen werden; unter Gleichberechtigten. Ohne solch überweltlichen Schiss. Diese Leute hätten so nicht sterben dürfen."


"Ja. So sehe ich das auch", stimmte der Halbling zu.


"Er hat es getan ..." Galanthea bedachte sie mit einem finsteren Blick. "... um Leben zu retten."


Der Zwerg lachte bellend. "Aber sicher doch! Und ich ficke gern, weil ich so keusch bin!"


"Nein, nein, sie hat recht", wandte der Schankwirt ein. "Der Krieg war wahrhaft schrecklich. Endloses Blutvergießen über Generationen hinweg und alles nur, weil sich irgendwelche Herzöge um denselben Thron stritten."


"Ja, ich habe von den Gefechten gehört. Warum hat sich das so lange hingezogen?", hakte der Zwerg nach.


"Tja", gab der Schankwirt zurück und kletterte wieder aufs Fass, "beide Armeen waren gleich stark, also fanden sie sich andauernd in Pattsituationen wieder. Beide Seiten hatten ungefähr gleich viele Schlachten gewonnen. Diese Ausgeglichenheit sorgte dafür, dass die Herzöge gleichermaßen siegesgewiss waren und blieben, sodass keiner von beiden nachgeben wollte ... genauso wenig wie ihre Söhne und deren Söhne. Sie schickten immer mehr Leute in den Tod ... für die Ehre oder aus Pflichtgefühl oder aus Stolz ... Was immer Adlige ihren Bauern auch für Lügen auftischen, um ihr Opfer zu rechtfertigen. Wobei 'Opfer' ein arg schmeichelhafter Begriff ist. In dieser Gegend findet man kaum eine Familie, die in diesem verdammten Krieg niemanden verloren hat."


Der Zwerg schüttelte ernst den Kopf.


"Ohne Alzurs Eingreifen", schlussfolgerte der Schankwirt, "würde das Blutvergießen wahrscheinlich bis heute andauern ..."


Der Zwerg furchte die Stirn. "Hm ... Trotzdem ist es nicht richtig, oder? So etwas zu tun ... Er hätte sich nicht in das Schicksal anderer einmischen dürfen ..."


"In das Schicksal anderer einmischen ...", sagte Galanthea lächelnd "... ist das, was er am besten kann."


Plötzlich erklang ein schriller Schrei von oben.


RUMMS!


Kapitel 10


Der Hexer ritt die staubige Straße entlang ...


Zum Glück für die Karawane lagen auf den Feldern am Wegesrand nur die verstreuten, abgefressenen Knochen toter Tiere. Opfer der Dürre, vermutete er. Arme Viecher.


Er näherte sich dem Gasthaus an der Kreuzung. Die Karawane müsste inzwischen eingekehrt sein. Von hier aus war Maribor nur noch einen halben Tagesritt entfernt ... Er runzelte nachdenklich die Stirn – aber wozu so weit reisen, wenn er seine Bezahlung schon hatte? Sein Arbeitgeber war tot, und mit ihm waren sämtliche Verpflichtungen gestorben. Jedenfalls die beruflichen ...


Er zog die Nase hoch und spuckte in den Staub. Er brauchte irgendeinen Zeitvertreib. Aber was ...?


Als er sich dem Gasthaus näherte, erblickte er Pferde und Wagen, die ihm bekannt vorkamen. Dennoch ... irgendetwas stimmte hier nicht ...


Vorsichtig trabte er an und musterte aufmerksam die Spuren im Dreck. Dann glitt er aus dem Sattel und duckte sich, um sich die Sache genauer anzusehen. Hier hatte ein Kampf stattgefunden, mutmaßte er. Getrocknete Blutspritzer ... Kein Zweifel. Er furchte die Stirn. "Scheiße."


Der Hexer befahl seinem Ross zu warten und lief auf das Gasthaus zu.


Draußen hockte ein stämmiger Kerl in einer schmutzigen gelben Tunika auf einer Bank. Er beäugte den Hexer und spielte demonstrativ mit seinem Dolch. Dann erhob er sich und plusterte sich vor dem Fremden auf. "Tut mir leid, Kumpel, wir haben geschlossen."


Der Hexer lief einfach weiter. Der schwerfällig aussehende Kerl stellte sich ihm in den Weg. "Bist du auf eine Tracht Prügel aus oder wie? Ich sagte, wir haben geschl..."


Ohne zu zögern hieb ihm der Hexer die Faust in den Bauch, und der Kerl sackte zu Boden. Keuchend wälzte er sich im Staub und schnappte nach Luft.


Der Hexer befahl ihm zu warten und betrat das Gasthaus.


Drinnen hatte sich ein Trupp Möchtegernbanditen um die Tische versammelt und begutachtete ihre Beute. Als der Hexer eintrat, verstummte das Gemurmel, und alle Augen richteten sich auf ihn.


"Wo sind sie?", verlangte er zu wissen. Noch gab er sich gefasst.


Die schlanke Frau brauchte einen Moment, um ihre Verwirrung zu überwinden. Dann nahm sie ihre Armbrust vom Tisch.


"Spar dir die Mühe ..."


Sie spannte die Sehne und legte eilig einen Bolzen an. Der Hexer verdrehte die Augen. "Wer ... wer zum Henker bist du?", fragte sie.


Er ließ die Halswirbel krachen und legte die Hand auf den Schwertknauf. "Wo sind sie?", wiederholte er grollend.


Die Frau verengte die Augen und nickte ihren Kameraden zu, woraufhin sie sich um den Hexer herum aufstellten.


"Ist das euer Plan, ja? Hier herumlungern? Passanten auflauern? Was meint ihr wohl, wie lange das gutgeht? Ehe sie Wachen vorbeischicken und ihr alle am Galgen baumelt."


"Das bezweifle ich ... Die sind viel zu beschäftigt mit den Aufständen in den Städten. Die Dürre hat Anarchie mit sich gebracht. Hier kommt so schnell keiner vorbei. Und jetzt verpiss dich und lass uns in Frieden, ehe ich dich umniete."


Der Hexer legte den Kopf schief, so als denke er scharf nach. "Hmm ..." Von unten drangen dumpfe Stimmen an sein Ohr. "Wozu haltet ihr sie fest? Wieso nehmt ihr ihnen nicht einfach ihren Kram ab und schickt sie fort? Wäre doch einfacher."


"Weil das ... also das ... ist, damit ...", stammelte die Frau, deren Blick hastig über die Versammelten wanderte. "Das ... geht dich einen Scheißdreck an. Da hast du deine Antwort." Sie legte an. "Letzte Warnung, ich schwöre."


"Ich rate euch ..." Der Hexer umklammerte das Heft seines Schwerts. "Vermeidet Blutvergießen und geht nach Hause."


Die Frau blinzelte panisch. Ihre Gedanken rasten sichtlich. Dann legte sie den Finger um den Abzug.


"Tu es nicht ...", warnte der Hexer.


Ihre Augen weiteten sich. Sie hatte sich entschieden.


Der Hexer zog sein Schwert.


ZOCK!


Der Bolzen flog.


In einer einzigen flüssigen Bewegung fing er das Geschoss mitten im Flug mit der flachen Seite seiner Klinge ab.


PING!


Der Bolzen änderte die Flugbahn und traf einen der Bande in den Hals. Der gurgelte erschrocken, würgte Blut hervor und sackte dann leblos zu Boden. Die Frau kreischte – "AHHH!" – und verstummte abrupt. Die Armbrust rutschte ihr aus der Hand.


Einen Momentlang war es vollkommen still. Dann ließ der Hexer den finsteren Blick über die Anwesenden streifen. "Noch jemand?"


Sie ließen die Waffen fallen und hoben ergeben kopfschüttelnd die Hände. Ein zerlumpter Mann stammelte: "B-b-bitte, Herr ..."


Der Hexer steckte das Schwert ein. "Los ... Verschwindet."


Vorsichtig schlich die ganze Bande zur Vordertür, die Augen starr auf den Hexer gerichtet. Kaum war der Ausgang in Reichweite, nahmen sie die Beine in die Hand und stolperten vor Fluchteifer fast übereinander.


Der Hexer betrachtete versonnen die Blutlache, die sich um den Unglücksraben gebildet hatte. Er seufzte und schnalzte missbilligend mit der Zunge. "Arme Sau ..."


Er musterte den Raum und fand in einer Ecke eine große, im Boden eingelassene Falltür.


Von unten drang eine Stimme an sein Ohr. "Hexer?"


Er öffnete die Luke und erblickte Galanthea am Fuß einer Holzleiter. Sie lächelte und nickte ihm dankbar zu.


Der Hexer bedachte sie mit einem finsteren Blick, aber ein Zucken um die Mundwinkel verriet ihn. "Zwei für zwei."


Kapitel 11


Auf einer flachen Böschung neben dem Gasthaus beförderte der Hexer eine weitere Schaufel Erde aus dem Grab, das er dort aushob. Einen Moment lang hatte er das Gefühl, wieder bei Alzurs Burg zu sein und die verstümmelten Leichen seiner gefallenen Brüder zu beerdigen. Die Stimme des Magiers hallte durch seinen Kopf: "Es ist wirklich traurig, ich weiß. Aber es muss getan werden, mein Junge. Das muss es!" Er kniff die Augen zu, verdrängte die Erinnerung und setzte dann seine Arbeit fort.


In der Nähe saß Galanthea auf einer Bank, die aus einem Eichenstamm gehauen worden war, und beobachtete den schmutzbedeckten Hexer auf liebevolle Art. "Vielleicht wollte er lieber einen Scheiterhaufen ..."


Er warf ihr einen wenig beeindruckten Seitenblick zu. Sie schmunzelte.


"Du bist wahrlich ein Ritter in glänzender Rüstung, das muss ich schon sagen."


Er stampfte die Schaufel schnaufend in den Untergrund und grub eine weitere Ladung Erde aus.


"Vielleicht sollte ich meine Fidel wieder ausgraben ... und eine epische Ballade über deine Abenteuer verfassen."


Er gab ein Schnauben von sich.


Galanthea dachte einen Moment lang nach. "Natürlich müsste ich passende Wörter finden, die sich auf 'Hexer' reimen ..." Sie hielt kurz inne. "Oder ... auf 'Madoc' ..."


Der Hexer erstarrte und wandte ihr langsam den Kopf zu.


"Er hat in den höchsten Tönen von dir gesprochen. Also, das letzte Mal, als wir uns gesehen haben."


Der Hexer sprang aus dem Grab, warf die Schaufel zu Boden und machte einige aggressive Schritte in Galantheas Richtung. "Will er sich jetzt in meine Angelegenheiten einmischen? Lässt er mich verfolgen? Läuft das etwa so? Was bist du – sein treues Schoßhündchen?"


"Ich arbeite für niemanden, mein Lieber. Allein das Schicksal hat dafür gesorgt, dass sich unser beider Wege kreuzen. Und doch ... als ich dich das erste Mal gesehen hatte, war mir sofort klar, wer da vor mir steht."


"Schwachsinn!" Der Hexer tat so, als müsste er lachen. "Einfach typisch! Er begreift es nicht, dass sich etwas seiner Kontrolle entziehen könnte!" Voller Hohn fuhr der Hexer fort: "Er muss einfach immer die verdammten Strippen ziehen!" Er ließ die Halswirbel knacken. "Und jetzt? Hat er dich hergeschickt, um mich weichzuklopfen? Soll ich angekrochen kommen, damit ich wieder in seine verdrehte Gemeinschaft aufgenommen werde? Tja, das wird nicht passieren. Ich gehöre da nicht hin – hab ich nie. Das Ganze ist eine verfluchte Farce! Ich bin nur ein Mörder, ein nichtsnutziger Halsabschneider, und mehr werde ich auch nie sein."


Galanthea wartete, bis er seinem Ärger Luft gemacht hatte, und legte dann den Kopf schief. "Oh, Madoc ... Warum erzählst du Mist, wenn du doch weißt, dass es nicht wahr ist?" Sie lächelte. "Wahrscheinlich bist du nicht ganz dicht, hm? Oder vielleicht auch völlig blind."


Madoc kochte vor Wut. "Wage es nicht ..."


Ein trauriger Blick trat in ihre Augen. "Du solltest wissen, dass er unbedingt will ..."


"Leck mich!"


"Du bist ihm so wichtig. Es ist unglaublich, dass es dich immer noch gibt – einen der ersten ..."


"Ich bin nicht sein Haustier, nicht sein beschissenes Spielzeug."


"Nein, nein, natürlich ..."


"Er muss mich vergessen, verdammt noch mal!"


Galanthea schwieg kurz und wägte ihre nächsten Worte ab. "Ja, da hast du völlig recht. Das muss er. Er muss vieles vergessen. Aber das musst du auch." Sie betrachtete Madoc und klopfte dann neben sich auf die Bank. "Komm. Setz dich."


Der Hexer blickte finster drein und knirschte frustriert mit den Zähnen. Schließlich gab er nach und setzte sich auf den Rand der Bank.


"Du hast eine Menge Zeit damit verbracht, vor dich hin zu grübeln, nicht wahr?" Sie ließ die Frage so stehen, und sein Schweigen wurde zu der Antwort, die er nicht geben wollte. Dann redete sie spöttelnd weiter: "'Oh, ich armer Tropf! Ich werde immer ein Sonderling, ein Monster sein!' Buhu, heul, jammer!"


Völlig überrumpelt von ihrem Spott wandte sich Madoc ihr zu.


"Werd erwachsen, Mann, und komm darüber hinweg."


Er starrte sie an und richtete seinen Blick dann auf die Landschaft.


"Immer, wenn jemand wissen will, wieso ich keine Bardin mehr bin, weiche ich der Frage aus. Willst du wissen, warum?" Sie wartete die Antwort nicht ab. "Weil die Geschichte es nicht wert ist, erzählt zu werden, geschweige denn, gehört zu werden. Da gibt es kein fantastisches Abenteuer, keinen zauberhaften Moment, kein großes Finale. Die Wahrheit ist ganz einfach und gefällt den meisten Leuten nicht. Weißt du, ich wollte eigentlich nie Bardin werden. Diese Verpflichtung hatte ich mir selbst auferlegt ... um das Andenken an die Menschen meiner Vergangenheit zu wahren. Viele Jahre habe ich so weitergemacht – habe für Fremde gesungen und diese verdammte Fidel gespielt ... und mich dabei elend und leer gefühlt. Was mich angetrieben hat, waren Schuldgefühle. Zu überleben, als andere in den Tod gerissen wurden ... das kann zu einer schweren Last werden. Aber natürlich muss ich dir das nicht erzählen ..."


Der Hexer murmelte etwas Unverständliches.


"Ich habe mir ein erfülltes Leben verweigert, um auf sinnlose Weise Buße zu tun."


"Daran bist du selbst schuld", brummte der Hexer.


"Ja. Stimmt wohl. Und es hat verdammt lange gedauert, bis mir das klar geworden ist. Du darfst nicht zulassen, dass die Vergangenheit deine Zukunft bestimmt. Als Gefangener der Toten und Begrabenen kann man sein Leben so richtig vergeuden. Selbst Alzur – mit all seinem Verstand und seiner Langlebigkeit – hat das noch nicht verstanden. Er ist besessen von längst vergangenen Zeiten – Zeiten, die er einfach nicht vergessen und hinter sich lassen kann. Aber das ist seine Entscheidung. Und du, Madoc, kannst deine eigene treffen." Sie hielt inne. "Alzur ist nicht derjenige, der dich formt, mein Lieber. Schon lange nicht mehr ..."


Madoc schwieg weiter und wälzte seine Gedanken.


"Du musstest furchtbare Dinge durchleben. Und ich fühle mit dir, wirklich. Aber bilde dir bloß nicht ein, dass du als Einziger leidest. Eigentlich bist du sogar in einer ziemlich privilegierten Position. Andere Leute kommen gerade so über die Runden und hangeln sich in ihrem elenden Leben nur von einem Tag zum nächsten. Sie können nichts aus ihren Ambitionen machen. Und dann – zack! – sterben sie, und es ist, als hätte es sie nie gegeben. Dagegen kannst du Orte bereisen und Dinge tun, von denen die meisten von uns nur zu träumen wagen. Du kannst Unglaubliches vollbringen, die Welt zu einem besseren Ort machen, und man wird dich nicht vergessen. Dieses Geschenk aufgrund von bösem Blut und Sturheit von sich zu weisen ... tja, das wäre eine grobe Beleidigung all jener, die das Leben noch weniger begünstigt hat.


Also, ich will dir mal was sagen: Zum Teufel mit Alzur und seinen Plänen. Ach, was soll's – und zum Teufel mit deinen gefallenen Brüdern. Hier geht es um dich. Nimm dein Schicksal selbst in die Hand und mach was aus deiner Zukunft, bevor es zu spät ist. Denn du, Madoc, gehörst zu den wenigen, die das tun können."


Der Hexer beugte sich nach vorn. In seinen Augen lag Nachdenklichkeit.


Galanthea streckte den Arm aus, Handfläche nach oben, und blickte zum Himmel. "Du solltest deine Graberei wohl besser abschließen." Scheinbar aus dem Nichts waren schiefergraue Wolken am vorher klaren, blauen Himmel aufgezogen und Nieselregen hatte eingesetzt. "Irgendwas sagt mir, dass dir nicht mehr viel Zeit dafür bleibt."


Kapitel 12


Der Schankwirt stolperte durch die Vordertür und sackte auf die Knie in den Matsch, die Arme jubilierend zum Himmel erhoben. "Ein Wunder – ein Wunder ist geschehen!" Er schloss die Augen und reckte das Gesicht selig lächelnd dem erfrischenden Nass entgegen. "So viele Jahre verlassen, so viele ..." Plötzlich kam ihm ein Gedanke, und er sprang auf die Füße, um zurück ins Haus zu laufen. Kurz darauf kam er wieder heraus, gefolgt vom Halbling und dem Zwerg, die Arme voll mit Töpfen und Pfannen.


Madoc und Galanthea saßen immer noch auf dem Hügel in der Nähe und lächelten ob des Eifers ihrer Gefährten, so viel Regenwasser wie möglich zu sammeln.


Der Hexer richtete den Blick gen Himmel. Misstrauisch betrachtete er die Wolken, die allesamt von einem Fixpunkt in der Ferne zu kommen schienen. Seltsam, dachte er bei sich, und runzelte die Stirn. Er kratzte sich den stoppeligen Hals und legte den Kopf schief. "Alzur ..."


"... Ja", erwiderte Galanthea.


Entschieden schob er den Gedanken beiseite und wechselte das Thema. "Wie ... Wie hat er deinen Fluch aufgehoben? Das hast du mir nie gesagt."


Galanthea überlegte eine Weile und seufzte schließlich. "Die Geschichte erzähle ich dir ein andermal, mein Lieber. Sie ist nicht besonders erquicklich, so viel kann ich verraten."


Der Hexer furchte die Brauen.


Sie lächelte sanft. "Sagen wir, manchmal lässt einem das Leben keine gute Wahl ... Keinen eindeutigen Weg, Frieden zu finden. Aber früher oder später müssen wir immer eine Wahl treffen und die Folgen tragen, wie sie auch aussehen mögen. Vergiss das nie, Hexer: Konsequenzen verschwinden niemals – sie vermehren sich nur. Und am Ende muss auf die eine oder andere Art jeder von uns bezahlen." Versonnen musterte sie ihre Reisegefährten, die im Regen vor dem Gasthaus tanzten. "Nur wenige von uns kommen unbesudelt durchs Leben, Madoc. Und diejenigen, denen es gelingt, sterben meist jung. Wir können nur immer wieder versuchen, die Waagschalen auszugleichen, ehe wir unseren letzten Atemzug tun."


Der Hexer schnaubte belustigt. "Das Leben ist eine Schuld."


"Genau."


Plötzlich wurden die Freundenrufe der Wassersammler von markerschütterndem Donner übertönt.


RUMMS!


KRACH!


Grüne und rote Lichtblitze zuckten durch die Luft und erhellten die Landschaft.


Madoc sprang auf die Füße und beobachtete konzentriert die Felder am Horizont, wo die Mauern von Maribor über der frisch durchnässten Erde aufragten. "Was tut er?"


Hoch oben häuften sich die Wolken und wogten unnatürlich hastig über den Himmel – fort von der Hauptstadt.


Blitze gabelten sich und fuhren auf die bedrückend finstere Szenerie nieder. Kurz darauf grollte Donner. Aus dem sanften Regen wurde ein Wolkenbruch, und die milde Brise frischte in wenigen Momenten zum Sturm auf. In der Ferne wirbelten grauschwarze Wolken umeinander und bildeten ein Loch im Himmel. Gewundene Klüfte aus pulsierendem Licht erstreckten sich wie Adern aus dem immer größer werdenden Riss und tauchten den Horizont in ein Spektrum tanzender Farben.


Galanthea und Madoc gesellten sich zu den anderen Reisenden, die sich an der Kreuzung versammelt hatten, um das Spektakel zu beobachten.


"On, nein, nein, nein", murmelte der Halbling vor sich hin. "Oje."


"Ein Portal!", brüllte der Zwerg über den strömenden Regen hinweg. "Wie in Ellander!"


"V-v-verdammt noch eins!" Das Gesicht des Soldaten war bleich, die Augen vor Schreck geweitet. "Das kann nicht sein ..."


Aus den Tiefen des Zyklons schlängelte sich eine schreckliche Gestalt aus dem Portal hervor. Der riesige längliche Körper voller zackiger Gliedmaßen wand sich am Himmel und hielt geradewegs auf Maribor zu.


Der Boden erzitterte, als die schreckliche Kreatur auf die unglückselige Metropole niederfuhr.


Das klaffende Loch schloss sich, und das farbenfrohe Licht verschwand. Übrig blieben nur die schwarzen Wolken, die schwarze Landschaft und die schwarze Silhouette des Monstrums, das hin und wieder von Blitzen beleuchtet wurde. Jedes Zucken gab den Blick auf einen massigen Tausendfüßer frei, dessen enorme Mandibeln wild um sich schnappten, als sich sein langer Körper um Türme wand und sie wie Sandburgen zermalmte.


Verdammt, dachte Madoc. So eine verdammte Scheiße.


Blinzelnd musterte er Galanthea. Ihre großen braunen Augen, dunkel und sanft, schienen ihn anzuflehen. "Geh", sagte sie. "Er braucht deine Hilfe. Genau wie wir."


Ohne zu zögern rannte Madoc zum Anbindepfosten und schwang sich in den Sattel seines Rosses. Die Zügel fest umklammert, wandte er sich ein letztes Mal denen zu, die er gerettet hatte. Der Halbling versuchte erfolglos, sich mit einer Pfanne vor dem Regen zu schützen. Der Zwerg bellte irgendetwas, das im Lärm des strömenden Regens völlig unterging. Der Soldat, der sich vom Schankwirt stützen ließ, schüttelte betrübt den Kopf. Galanthea, deren sorgenvoller Blick ihre Angst verriet, lächelte den Hexer hoffnungsvoll an und nickte ihm anerkennend zu.


Madoc erwiderte die Geste, wendete sein Pferd in Richtung der finsteren Straße, gab ihm die Sporen und galoppierte auf Maribor zu. Zur Schwärze. Zum Ursprung der Blitze. Zum wütenden Ungeheuer und dem wilden Gemetzel. Zu Zerstörung, Tod und Chaos.


Auf und davon ritt er, zu seinem Schöpfer.


Seinem Schicksal entgegen.

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