Die vollständige Geschichte der zweiten Reise

Kapitel 1


Moment, ich habe die Becher vergessen! Ich hole sie eben aus dem Sattel.


Also dann, zurück ans Feuer. Hm, wo fange ich an? Es gibt so vieles zu sagen, Onkel Vesemir. Meine erste Erinnerung ist fast verblasst ... Oh! Jetzt weiß ich! Es hat nichts mit unserem Training oder den Theoriestunden zu tun ...


Erinnerst du dich an das Märchen von der Tigerkatze und dem Rotfuchs? Das, in dem ihnen die Jäger an den Pelz wollen? Um Handschuhe aus ihnen zu machen? Natürlich erinnerst du dich. Wie oft hast du diese Geschichte den Kindern auf Kaer Morhen vor dem Schlafengehen erzählt? Dutzende Male? Hunderte? Du hast sie sogar Geralt erzählt, nicht wahr? Ich kann ihn mir als Kind kaum vorstellen. War er überhaupt je eins?


Natürlich, ich weiß. Selbst Geralt war einmal ein Junge.


Jedenfalls war er es, der mir das Märchen erzählte, als ich noch klein war. Pff, damals konnte ich es überhaupt nicht leiden, wenn mich jemand "klein" nannte, und jetzt tu ich es selbst. Aber es ist die Wahrheit: Ich war klein. Und verloren. Und ganz allein. Ich war vor König Ervylls Leuten und seinem schrecklichen Sohn Kistrin geflohen, den ich wirklich, WIRKLICH nicht heiraten wollte. Schon allein sein Atem, igitt! Jedenfalls verirrte ich mich im Wald Brokilon. Dort hätte ich meinen Tod gefunden, wäre Geralt nicht gekommen. Wäre er nicht aus dem Nichts aufgetaucht, um mich vor diesem übergroßen Tausendfüßler zu retten ... Ja, ich weiß, ich weiß! Es war kein Tausendfüßler, sondern ein Yghern, auch bekannt als Skolopendromorph. Aber du musst zugeben, dass das Biest selbst in den Gravuren wie ein übergroßer Tausendfüßler aussieht.


Geralt rettete mich vor dem Yghern, und dann, als ich später unter dem Sternenhimmel lag und nicht einschlafen konnte, erzählte er mir deine Gutenachtgeschichte. Von der Katze und dem Fuchs auf der Flucht vor den Menschen. Und obwohl wir uns damals noch nicht kannten, hast du mir damit deine erste Lektion erteilt. Eine ziemlich gute übrigens: Auf der Flucht ist es besser, sich wie eine Katze zu verhalten, als zu versuchen, schlau wie ein Fuchs zu sein. Um dem Jäger zu entkommen, sei schnell, reagiere ohne zu zögern und ohne tausendzweihundertachtzig Pläne durchzuspielen. Stattdessen klettere einfach auf einen Baum. Lauf weg. Sieh nicht zurück.


Denn tust du es doch, endest du als Pelzmantel. Wie dieser rote Handschuh.


Kapitel 2


Auf wen sollen wir trinken? Geralt? Prost!


Puh, das ist starkes Zeug! So stark wie das Wasser des Brokilon.


Weißt du, Onkel Vesemir ... Selbst damals, vor all den Jahren, wusste ich schon, dass ich für ihn bestimmt war. Als er mir die Geschichte von der Katze und dem Fuchs erzählte, spürte ich sie deutlich – die Macht, die uns stärker aneinander bindet als die stärksten Blutsbande. Aber damals war er zu stur, um das zu erkennen. Dümmer als ein Kind, das sich in der Wildnis verlaufen hat, verstehst du? Natürlich tust du das. Ich habe mit eigenen Ohren gehört, wie du ihn deswegen gescholten hast. Oh ja, Onkel.


Aber zurück zu deiner ersten Lektion. Das Märchen.


Du hast es mir auch einmal erzählt. Ich war mitten in der Nacht aus einem Albtraum aufgewacht. Ganz allein in der Finsternis ... Doch dann hörte ich deine Stimme, so warm und liebevoll. Meine Angst war sofort verschwunden, als wäre nichts gewesen. Aber du hast die Geschichte anders erzählt als Geralt – viel detaillierter, und trotzdem nicht langweilig. Deshalb habe ich nie etwas gesagt.


Tut mir leid, das zu sagen, aber genau diese Lektion wandte sich letztendlich gegen den Lehrer selbst. Ja, du hast richtig gehört. Gegen dich. Ich war ein ziemlich ... widerspenstiges Kind, aber wir wissen beide, dass dir das insgeheim gefiel. Aber damals habe ich dich bestimmt zur Weißglut getrieben. Ein bisschen.


Als das Monster von Brokilon nur noch eine vage Erinnerung war und Prinz Kistrin vergessen, und als Cintra ... Als Cintra aufhörte zu existieren. Da wurde die Hexerfeste mein Zuhause. Und ihr, die großen, bösen Wölfe, wurdet meine Familie.

Niemand weiß das so gut wie du. Aber ich schweife ab, entschuldige.


Hm, also ... Erinnerst du dich daran, als ich davonlief? Nein, nicht das erste Mal. Auch nicht das zweite. Damals war mir dieser Ort schon sehr ans Herz gewachsen. Obwohl es hier nicht viel gab – ein Bett, eine Truhe und diese riesige, ekelhafte Ratte, die ich getötet und als Trophäe behalten habe. Trotzdem war hier mein Zuhause. Es hatte nichts vom Komfort meiner Gemächer in Cintra, aber vor die Wahl gestellt ... Hätte ich mich immer wieder für Kaer Morhen entschieden.


Warum also bin ich weggelaufen, fragst du?


Ich verrate es dir gleich. Aber zuerst gieß uns noch etwas von dem Gebräu ein.


Kapitel 3


Ich werde ehrlich mit dir sein, Onkel Vesemir. Als ich Kaer Morhen zum ersten Mal sah, überkam mich Angst. Ich habe mich schrecklich gefürchtet.


Als Geralt mich nach dem Fall von Cintra fand und mich endlich mitnahm, glaubte ich, ich müsste nie mehr Angst haben. Ich glaubte, das Schlimmste sei überstanden ... Doch statt eines Zuhauses fand ich mich in dieser finsteren Burgruine voller Ratten und furchteinflößender Echos wieder. Ich sah bedrohliche Gestalten. Ich sah böse, schrecklich glänzende Augen, die mich anstarrten. Die in der Finsternis funkelten. Doch dann hörte ich zum ersten Mal deine warme Stimme, und plötzlich war die Angst verschwunden. Die schwarzen Gestalten wurden meine Freunde. Meine Beschützer. Die funkelnden Augen waren nur neugierig.


Ihr alle wart liebevoll. Absolut.


Aber einige Dinge ... Konntest nur du tun. Zum Beispiel die Lederjacke, die du für mich gemacht hast. Sie war ein wenig schief ... Na gut. Sehr schief. Um ehrlich zu sein, sah sie aus wie der Albtraum eines jeden Schneiders. Aber ich mochte sie, genau wie das Schwert, das du mir geschmiedet hast. Niemand in der Feste – absolut niemand! – hat je mein Training vergessen. Nicht ein Mal. Doch nur du hast daran gedacht, dass ein Kind – selbst eines mit meinen Talenten – die richtige Kleidung und ein passendes Schwert braucht. Du hast dein Bestes getan, und das wusste ich sehr zu schätzen.


Vielleicht zu sehr?


Hätte ich dich nicht so eifrig entschädigen wollen, wäre ich vielleicht auf dem Pfad geblieben. Ich wäre nicht in den Wald gelaufen und hätte mich stattdessen an mein Training gehalten. Ich war sicher, ich könnte in die Feste zurückkehren, ehe jemand meine Abwesenheit bemerkt. Du musst wissen, ich hatte dich mehrmals von Wildbret schwärmen gehört. Manchmal hast du sogar vor dich hin gemurmelt: "Wenn nur einer von euch jungen Hexern auf die Jagd gehen würde, könnten wir ein Festmahl feiern. Aber nein ... Es gibt immer nur Bohnen, nichts anderes."


Was soll ich sagen, ich war jung. Und ein Hexer. Irgendwie. Also hielt ich es für eine tolle Idee, dir deinen Wunsch zu erfüllen. Die Sache hatte nur einen Haken ... Ich fürchtete, du würdest meine Gedanken nicht nachvollziehen können, oder noch schlimmer – würdest mich den ganzen Tag Schwerter polieren lassen, wenn ich sie dir mitteilte. Weil du dir Sorgen gemacht hättest. Um mich und die Schwerter.


Also beschloss ich, dich zu überraschen. Mit leckerem Wildschwein.

Ich wusste genau, wo ich eins finden würde ...


Kapitel 4


Und nein ...

Ich habe mich diesem Schwein nicht völlig unvorbereitet gestellt. Ich hatte eine Falle gebaut ... Also gut. Ich gebe es zu. Sie war kein Talgarscher Winter oder auch nur eine Wolfsgrube. Nur eine einfache Falle.


Aber sie funktionierte!


Na gut. Beinahe. Sie wurde ausgelöst. Schnapp! Zack! Aber das Schwein konnte sich trotzdem noch bewegen. Und dann ... griff das Riesenvieh an.


Kam direkt auf mich zu.


Aber ich lief nicht davon, Onkel Vesemir. Ich hob mutig das Schwert, das du speziell für meine Hand geschmiedet hattest. Und dann setzte ich alles ein, was ich von euch gelernt hatte. Ausfallschritt, Angriff, Rückzug! Halbe Pirouette, Hieb, Rückhand! Ich hielt mit einem Arm das Gleichgewicht, schlug mit dem anderen zu und sprang kreuz und quer über den rutschigen Waldboden, der mit tückischen Wurzeln übersät war.


Doch dem Wildschwein waren meine Pirouetten einerlei. Man kann sagen, es war ein würdiger Gegner. Mindestens einmal traf ich sein haariges Hinterteil und erntete nicht einmal ein Grunzen. Dann hob es plötzlich den Kopf, wirbelte Dreck auf und schlug Haken, während es erneut auf mich zustürmte.


Ich blieb standhaft, bereit zu kämpfen. Du wärst stolz gewesen.


Angriff, Ausfallschritt! Konter! Halbe Pirouette! Konter, volle Pirouette! Halbe Pirouette! Sprung und Hieb!


Doch das verdammte Schwein blinzelte nicht einmal. Es sah mir direkt in die Augen. Hartnäckig. Was sollte ich tun? Meine Hiebe schienen keine Auswirkung zu haben. Es war zwecklos. Als würde man auf einen Sack Hirse oder einen Holzklotz einstechen.


Aber nein! Ich musste Ruhe bewahren, atmen ... weitermachen. Das habe ich von dir gelernt. Konzentration. Bis zum letzten Moment mit dem Ausweichen warten. Warten ... Warten ... Pirouette!


Nur leider ging diese eine Pirouette daneben. Damit will ich sagen: Sie misslang gründlich. Das Schwein traf mich an der Seite und schleuderte mich gut zwanzig Fuß in die Luft. Ich flog mit dem Rücken gegen einen Baum, und das Schwert fiel mir aus der Hand. Brokilon und die Sterne verschwammen vor meinen Augen. Das Wasser rauschte mir in den Ohren.


Und mir ging nur ein Gedanke durch den Kopf: Flieh! Lauf weg wie die Katze aus deiner Geschichte. Klettere auf einen Baum. Sieh nicht zurück.


Das Schwein hatte keine Eile. Zuerst schnüffelte es am im Dreck liegenden Schwert. Dann hob es seinen riesigen Kopf und starrte mich an – das kleine Mädchen in den Zweigen. Meine Rippen brannten, und jeder Atemzug zog Schmerzen durch meinen Körper.


Das sture Wildschwein stand da und wartete. Es starrte mich an. Und wartete geduldig unter dem Baum.


Ich weiß nicht mehr, wie viel Zeit verstrich, ehe es gelangweilt abzog. Aber sie reichte dir aus, um meine Abwesenheit zu bemerken.


Kapitel 5


Während ich darauf wartete, dass sich unser Abendessen in spe in Bewegung setzte, erinnerte ich mich an die Worte eines Kinderreims. In meinem Kopf sagtest du ihn auf:


„Wie das kleine Schweinchen seine

Hauer schärft und wetzt,

im Boden wühlt, der Sorgen keine,

und Baumrinde zerfetzt.

Das Gesicht erwartungsfroh verzerrt,

die Klauen frisch poliert,

sein Maul zum Grinsen aufgesperrt

nach kleinen Mädchen giert.“


Louis von Charolleis’ Gedicht ist nur eines von vielen Dingen, die du mir beigebracht hast, Onkel. Nur nützte es mir in dieser Situation gar nichts.


Zu meinem Bedauern.


Verborgen in der großen Eiche bekam ich deine Stimme und Reime einfach nicht aus dem Kopf. Ich hatte Schwierigkeiten, meine Gedanken zu sammeln, um einen Plan zu ersinnen. Der Anblick meines matschigen Schwerts, das vom Wildschwein in den Boden getrampelt worden war, verbesserte meine Konzentration auch nicht. Er frustrierte mich. Was du bloß sagen würdest, wenn du die Klinge in diesem Zustand sähest? Der Gedanke daran war mir unerträglich! Als ich mir endlich sicher sein konnte, dass die Bestie verschwunden war, blieb nur noch der Wunsch, meine Waffe zurückzuholen.


Langsam glitt ich vom Baum und machte ein paar vorsichtige Schritte. Meine Rippen schmerzten immer noch mit jedem Atemzug, und mein Herz schlug wie ein Schmiedehammer.


Plötzlich hörte ich deine Stimme.


Nur diesmal nicht im Kopf, sondern wirklich. Sie kam näher. Du riefst meinen Namen, doch anstatt zu frohlocken, stieg Panik in mir auf. Hastig griff ich ins Dickicht und nach dem Schwert. Selbst unter all dem Dreck schimmerte die Klinge schwach. Da waren sie wieder, die Rufe – mein Name, überall. Schatten bewegten sich zwischen den Bäumen. Aus der Finsternis drang es immer lauter: Ciri! Cirilla!


Cirilla Fiona Elen Riannon. Prinzessin von Cintra ...


Plötzlich kehrten die Albträume zurück, obwohl ich hellwach war. Vor mir eine Wand aus Feuer. Ich erblickte einen furchteinflößenden schwarzen Ritter mit geflügeltem Helm. Ich hörte die Schreie der sterbenden Cintrier.


Diesmal war Klettern nicht die Lösung.


Doch dann, wie aus einem Impuls heraus, fand ich mich in der Krone eines Nadelbaums wieder. Dann stürzte ich ab. Ehe ich den Boden erreichte, passierte es erneut. Wieder ein Nadelbaum. Diesmal hielt ich mich an einem Zweig fest, bevor ich fallen konnte. Wie durch ein Wunder blieb mir dabei das Schwert erhalten. Staunend beobachtete ich dich ... Wie du meine Spuren bis hin zur Eiche verfolgtest. Wie du dich am Kopf kratztest, als meine Spur einfach ... verschwand.


Damals wusste ich nicht, was passiert war, aber ich glaube, ich hatte mich zum ersten Mal teleportiert.


Kapitel 6


Wie es sein kann, dass du davon noch nie gehört hast? Nun ja, Geralt hat mir geholfen. Obwohl ihr alle nach mir gesucht habt, war er derjenige, der mich letztlich fand. Wie immer. Schicksal, nicht wahr?


Ich weiß, ich weiß, das wird langsam alt. Schicksal, Schicksal, immer wieder Schicksal.


Und Bohnen, ha!


Wie auch immer, ich war furchtbar verwirrt, als ich dich von dort oben aus der Baumkrone beobachtete. Die Welt kam mir surreal vor. Die Zeit verging nicht so wie sonst. Ich glaube nicht, dass ich in dieser Situation eine Vorahnung hatte, denn das hättest du bestimmt gehört.


Aber ich hatte eine Vision ...


Eine Katze rannte mit einem Rudel Füchse davon. Sie sprang von Baum zu Baum. Die Füchse folgten am Boden. Und Jäger liefen ihnen hinterher. Schwarze, Rote, Hunde und selbst ein furchteinflößender Löwe.


Es ist wohl wenig überraschend, dass aus den Füchsen flauschige Muffe wurden, während die Katze einfach davonrannte. Es schien, als wolle sie nie stehen bleiben ...


Ich öffnete die Augen.


Geralt beugte sich über mich, mit ernstem Gesichtsausdruck, doch ein leichtes Lächeln strafte seine harten Züge Lügen. Er war natürlich trotzdem wütend auf mich, aber ich war in Sicherheit, und das war ihm das Wichtigste.

Natürlich fing ich schnell an zu reden. Ich gab zu, vom Pfad abgekommen zu sein, erzählte von meinem großartigen Plan, von der Falle, die nicht funktioniert hatte, und dem widerspenstigen Wildschwein. Nur die seltsamen Sprünge und die Vision erwähnte ich nicht. Ich hatte Angst und wollte nicht wahrhaben, dass diese Dinge passiert waren. Ich dachte, anstatt mich darum zu sorgen, sollte ich ihn lieber von meinem ursprünglichen Plan überzeugen. Dieses Wildschwein hätte keine Chance, wenn wir zwei zusammenarbeiteten!


Geralt war anderer Meinung. Er meinte, ich sei wahrscheinlich auf den Alten Wilden gestoßen – einen fürsorglichen Waldgeist. Also ... kein Wildschwein. Trotzdem gingen wir nicht mit leeren Händen.


Auf dem Rückweg nach Kaer Morhen erlegten wir einen Hasen. Er war klein und sehnig, aber die Suppe war überraschend gut. Erinnerst du dich daran? Nein, natürlich nicht ... Dir fiel der Hase ja nicht einmal auf, als wir zurückkehrten. Dir waren Müdigkeit und Hunger einerlei. Du hast dich nur für mich interessiert – für die Angst in meiner Stimme und meine geprellten Rippen. Du kümmertest dich sofort um meine Wunden und gabst mir Heiltränke.


Die Hasensuppe hast du nicht einmal angerührt. Nicht einen Löffel davon. Stattdessen hast du dafür gesorgt, dass ich sie esse, um wieder zu Kräften zu kommen.


Kapitel 7


Märchen und Kinderreime. All die dicken Wälzer, die wir zusammen gelesen haben. Fechtstunden ... was noch? Hm, vielleicht zur Abwechslung etwas, das du mir nicht beigebracht hast.


Davon gibt es auch vieles. Oh, ja. Aber das hier sticht hervor.


Es mag nicht so scheinen, aber weder du noch Geralt haben mir je das Töten beigebracht. Ich habe von euch viel über Verteidigung gelernt. Und übers Überleben. Dass ich nie aufgeben darf ... Aber nie, wie man klatblütig ein Leben nimmt.


Denn kämpfen ist nicht dasselbe wie töten. Du selbst weißt das nur zu gut.


Du hast mir gezeigt, wie man ein Schwert führt und elegante Drehungen macht. Wie man ausweicht und pariert. Sogar wie man angreift! Wie man einen Ledersack zerfetzt. Eine Strohpuppe. Oder übergroße Nager. Aber nicht, wie man einen anderen Menschen tötet.


Das musste ich mir selbst beibringen. Viel später.


Als ich das erste mal tötete, hatte ich Kaer Morhen lange verlassen. Ich hatte ein wenig im Tempel von Melitele gelernt, wo mich Yennefer in der Magie unterwies. Aber wie so oft trieb es mich woandershin, als ich mich gerade eingewöhnt hatte. Diesmal fand ich mich auf der Insel Thanedd wieder.


Das war zur Zeit des Staatsstreichs.


Die Details will ich dir ersparen, Onkel. Du weißt bereits, was damals vorfiel.


Es war schrecklich. Im einen Augenblick schlief ich friedlich im Bett, im nächsten kniete ich zwischen Leichen. Thanedd war zum zweiten Cintra geworden. Die Menschen schrien, kämpften verzweifelt und wurden vor meinen Augen niedergemetzelt. Der Tod ist hässlich, egal ob durch Schwert oder Magie. Also rannte ich. Schließlich waren alle, die mir teuer waren, fort. Ich wurde wieder einmal gejagt. Und in all dem Chaos, als ich kopflos um mein Leben rannte, fand ich mich im Tor Lara wieder. Am Portal. Es zog mich an wie ein Magnet, flüsterte sogar ... Es gab keinen anderen Ausweg, nur das schimmernde Oval. Also schloss ich die Augen und trat ein. Dann blendete mich etwas Grelles, wie ein wilder Strudel; ein atemloser stoß, der schmerzhaft meine Rippen traf und die Luft aus den Lungen presste.


Plötzlich war ich völlig allein. Mitten im Nirgendwo. Das Portal hatte mich in irgendeine Wüste geschickt, in der ich sterben würde – da war ich mir sicher. Aber ich überlebte. Ich fand einen Ausweg – wie ich es irgendwie immer tue. Leider lief ich ein paar Söldnern geradewegs in die Arme ...


So weit ich auch lief, der Ärger schien gleich hinter der nächsten Ecke zu warten. Wieder einmal war es mein Schicksal, gefangen zu sein. Und wir wissen beide, wie schwer es ist, seinem Schicksal zu entkommen. Aber wieder kam ich davon. Mithilfe einiger Füchse konnte ich fliehen.


Ich hatte mich schon gefragt, wann die Füchse aus meinen Visionen wohl auftauchen würden – wer sie sein würden und wie ... Es stellte sich heraus, dass sie ein ziemlich gewalttätiger Haufen waren.


Ja, Onkel. Ich möchte dir von einer Vergangenheit erzählen, auf die ich alles andere als stolz bin. Von Taten, die ich mir nie vergeben werde. Von meiner Zeit als Banditin.


Als Ratte.


Kapitel 8


Wie also kam es dazu? Nun, während die Söldner, die mich gefangengenommen hatten, mit einer anderen Bande feierten, griffen die Ratten das Gasthaus an. Sie taten es, weil besagte Bande einen ihrer Kameraden gefangenhielt – einen Kerl, der gefesselt neben mir lag.


In dem Moment erschienen mir die Ratten wie das kleinere Übel, also half ich ihnen, um mir selbst zu helfen.


Schon wieder gab es einen Kampf – als ob Thanedd nicht ausgereicht hätte. Wieder war ich auf der Flucht, diesmal zusammen mit den Ratten.


Und da ... Da habe ich ...


Ich rannte durch das Dorf, fort von dem verdammten Gasthaus, um dem Chaos zu entrinnen.


Um zu verhindern, das sie mich wieder einfangen.


Da kam plötzlich einer der Siedler aus seinem Schweinestall. Er griff mich mit einem Speer an.


Was dann geschah, verfolgte mich lange Zeit in meinen Träumen. Ich erinnere mich genau. An jede Bewegung. An die instinktive Halbdrehung, die mich vor der Speerspitze rettete, und den Siedler, der keine Zeit hatte, meinen Konter abzuwehren – ich war einfach zu schnell für ihn.


Für einen Moment öffnete sich sein Mund wie zum Schrei. Ich sehe noch seine hohe Stirn, blass oberhalb der Hutlinie. Nur war diese Blässe mit Blut besprenkelt. Er heulte und keuchte, stürzte zu Boden und blieb zwischen Stroh und Matsch liegen. Blut spritzte aus ihm hervor wie aus einem abgestochenen Schwein, und mein Magen drehte sich um.


Ich versuchte zu rechtfertigen, was geschehen war. Habe mir eingeredet, dass mein Training schuld war. Das Gedächtnis meiner Muskeln. Dass ich niemandem das Leben nehmen wollte. Dass es nur Notwehr gewesen war.


Und so war es auch – zumindest dieses erste Mal.


Doch später, nachdem ich den Ratten offiziell beigetreten war, änderte sich das. Ich änderte mich. Ich fing an, aus nichtigen Gründen zu töten. Aus Gründen, die den Tod nicht rechtfertigen.


So war es aber nicht sofort.


Man könnte sagen, ich habe es lange hinausgezögert. Habe vor den anderen so getan, als wäre ich eine Mörderin. Bei Gefechten und Überfällen teilte ich gefährlich aussehende Hiebe aus. Ließ sie tödich aussehen. Aber eigentlich sollten sie meine Gegner nur außer Gefecht setzen. Sie überwältigen, aber nicht umbringen. So war es auch bei dem Überfall auf den Bütteltrupp geplant ...


Wir stießen in der Nähe einer eingestürzten Brücke auf sie. Die Ratten töteten den gesamten Konvoi, bis auf einen Soldaten. Er wollte fliehen, aber als er mich erblickte, wendete er sein Pferd, preschte auf mich zu ... und verfehlte. Er parierte in Erwartung eines Konters, aber ich habe ihn trotzdem erwischt. Genau in den Mund. Der Schnitt war nicht tödlich, aber einer, der sein Gesicht entstellen würde ... so wie meins später.


Ich frage mich, ob er diese Geschichte jemals jemandem erzählen konnte.


Ich hoffe es.


Kapitel 9


Natürlich stürzten sich die Leute eifrig auf mich. Vielleicht, weil ich die jüngste Ratte war. Vielleicht sah ich auch am wenigsten bedrohlich aus. Welchen Grund es auch hatte, der Tod war allgegenwärtig. Verfolgte mich überallhin. War vor mir. Um mich herum. Immer in meiner Hand.


Ich dachte oft an Kaer Morhen, besonders nachts. Meine Heimat, in die ich so gern zurückgekehrt wäre. Aber ich hatte Angst. Ich hatte auf Thanedd so viel verloren, Onkel. Jedenfalls glaubte ich das damals. Ich fühlte mich machtlos.


Ich wollte das bisschen, was ich hatte, nicht aufs Spiel setzen. Ich wollte nicht einsam sein.


Aber ich hatte Hoffnung ... Ich vermutete, dass du noch dort warst. Ich träumte davon, zur Festung zurückzukehren. Träumte von deinem warmen Lächeln. In meinem Kopf zeichnete ich Karten und Wege, die mich zu dir führten. Aber du weißt ja, wie es ist. In Kriegszeiten darf man nicht allein reisen, sonst ist man allzu schnell tot.


Und ich wollte nicht sterben. Also blieb ich bei der Bande. Versteckte mich unter ihnen wie eine echte Ratte. Ließ mich treiben, nur um weiterzuleben.


Bis zu jener Nacht, als wir das Dorf Neuschmiede angriffen.


Wir schlichen uns mit nur einem Ziel an – wir wollten Feuer im Bürgermeisterhaus legen. Wir wollten es niederbrennen. Der Bürgermeister nämlich war es gewesen, der unseren Kameraden an die Söldner aus dem Gasthaus ausgeliefert hatte. Wir wollten, dass die Leute verstanden, dass eine solche Tat unentschuldbar war. Und die Bestrafung? Der Tod, natürlich.


Aber du musst verstehen, Onkel, wir waren nicht durch und durch böse. Der Ruf der Ratten war zum gleichen Anteil schlecht wie gut. Denn wir, die verstoßenen Kinder, verteilten fast all unsere Beute. Wir stahlen Vieh, Korn und Kleidung von den Nilfgaardern und verteilten alles in den Dörfern. Wir halfen den Leuten. Wir bezahlten Schneidern und Handwerkern gutes Gold und Silber für die Dinge, die wir am meisten schätzten – Waffen, Kleidung und Verzierungen. Im Austausch für unsere Großzügigkeit gaben sie uns Essen. Nahmen uns in ihre Häuser auf. Versteckten uns. Selbst wenn man sie windelweich prügelte, verrieten sie uns nie. Sie waren loyal.


Irgendwann setzten die Präfekte eine saftige Belohnung auf unsere Köpfe aus.


Diejenigen mit mehr Gier als Verstand fingen an, nach nilfgaardischem Gold zu lechzen. So wie es der Bürgermeister von Neuschmiede getan hatte, dessen Gier nach Gold sein Schicksal und das seines gesamten Dorfes besiegelte.


Was in jener Nacht geschah ... inmitten all der Flammen und dem Chaos ... holte mich in die Realität zurück. Ließ mich erkennen, was wirklich wichtig war. Überzeugte mich davon, dass ich die Ratten so schnell wie möglich verlassen musste.


Wenn ich konnte.


Kapitel 10


Wenn wir Gold verteilten, waren wir laut und fielen auf. Wir haben den Leuten eine richtige Theatervorstellung geboten. Aber wenn wir angriffen, waren wir wie Ratten ... oder eher wie Füchse. Leise, hinterhältig und schlau.


In jener Nacht störten zuerst nur die knisternden Geräusche von Flammen die Stille. Dann wurde es furchtbar laut. Schreie von fliehenden Menschen. Gejammer. Wehklagen. Unsere Reittiere waren an solche Geräusche gewöhnt und zeigten nahezu keinerlei Reaktionen. Die ersten Überlebenden liefen aus einer qualmenden Hütte. Diener, ihrer Kleidung nach zu urteilen. Wir zückten unsere Klingen. Wir sollten alle, die dem Feuer entkamen, mit dem Schwert erledigen.


Plötzlich kam es hinter dem Haus zu einem Tumult. Reiter schossen aus einem verborgenen Stall. Unter ihnen befand sich der Bürgermeister, der sich vorher gerade genug Zeit genommen hatte, um in ein Paar Hosen zu schlüpfen. Sein feister, nackter Wanst wogte vor ihm im Sattel. Die Diener kümmerten uns nicht – wir wollten unser eigentliches Ziel und seine Leute und jagten ihnen hinterher. Es waren viele. Der Bürgermeister lebte offenbar mit seiner ganzen Familie bis hin zum Cousin fünften Grades unter einem Dach. Jede Ratte hatte mehr als genug Ziele.


Ich hatte zwei.


Eines auf einem großen, starken Wallach, das andere auf einer schlanken, jungen Stute. Der große Reiter saß fest im Sattel, während sich die kleinere Gestalt kaum halten konnte. Ich galoppierte ihnen hinterher und atmete die beißende Luft ein. Sie befanden sich bereits fast in Reichweite, als der Wind ihnen die Kapuzen vom Kopf wehte. Sie warfen mir panische Blicke zu, und ihr Haar schimmerte rot im Feuerschein. Jede Menge Rauch stieg aus den Flammen empor und ich musste husten. So schlimm, dass mir die Tränen in die Augen schossen. Ich wischte sie weg, um besser sehen zu können. Ich wusste nicht, ob ich es mir nur einbildete, ob mir das Zwielicht Streiche spielte, denn ... Onkel ... der Große sah aus wie du. Der Kleine war in meinem Alter. Eigentlich noch ein Kind.


Ich stellte mich ihnen in den Weg und schwang mein Schwert.


Der Ältere wandte sich mir zu. Und obwohl er wie du aussah, hatte er nicht dein Fechttalent. Ich überwältigte ihn schnell und mühelos. Warf ihn aus dem Sattel, drückte ihn zu Boden und fragte ihn, wer er sei. Als ob es wichtig gewesen wäre. Der Mann fing an, hastig zu sprechen und wand sich wie ein Vogel im Fangnetz. Der Junge glitt unbeholfen vom Pferd und warf sich zwischen mich und seinen Begleiter, obwohl ihm der alte Mann befahl, wegzulaufen. Aber der Rotzbengel wollte seinen Beschützer nicht im Stich lassen.


Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen.


Sie waren Mentor und Schüler. Wie du und ich.


Der Junge war wahrscheinlich der Sohn des Bürgermeisters – jedenfalls hatte er das gleiche feiste Gesicht. Aber der Blick in seinen Augen ... erinnerte mich an ... mich. Sturheit, Angst, Schmerz. All das stand ihm ins Gesicht geschrieben. So wie mir, vor gar nicht allzu langer Zeit. Doch in dieser Nacht trug ich ein anderes Gesicht. Das Gesicht der Jägerin. Genau wie die, die mich einst gejagt hatten.


Nun war ich die Verfolgerin. Ich tat anderen weh, stahl, tötete ...


Das Schwert rutschte mir aus meinen taub gewordenen Fingern. Meine Lippen bewegten sich kaum, als ich sagte: Lauft weg ... los. Na los, verpisst euch!


Der Ältere stellte keine Fragen. Er versuchte gar nicht erst, meinen Sinneswandel nachzuvollziehen. Er schnappte sich den Jungen und setzte ihn aufs Pferd. Dann sprang er auf seinen Wallach und trieb die Tiere an.


Reglos sah ich ihnen hinterher.


Hinter mir ertönte das jämmerliche Geheul der Familie des Jungen.


Kapitel 11


Ich beschloss zu gehen.


Gleich am nächsten Abend sammelte ich mein Zeug zusammen und schlich mich aus dem Lager. Ich wusste, dass es ganz allein auf der Straße extrem gefährlich und einsam sein würde, aber dieses Risiko musste ich eingehen. Ich wollte zurück nach Kaer Morhen. Um dich zu finden oder Geralt oder Yennefer ...


Da stellte sich mir der Bandenanführer in den Weg: Giselher.


Er sagte, er wisse von meiner Tat. Dass ich den Jungen verschont hatte. Er machte mir deshalb nicht einmal einen Vorwurf, aber fand, ich hätte den Lehrer töten müssen. Kein Erwachsener dürfe überleben. Ansonsten würden sich noch Gerüchte verbreiten, dass man die Ratten ruhig verärgern kann, weil sie ohnehin nur einen Klaps auf den Hintern geben. Mir drohte eine harte Bestrafung. Denn alle Verräter müssen mit ihrem Blut bezahlen. So lautete die Regel, und deshalb stand Giselher nun mit erhobener Klinge vor mir.


Aber ich war keine Verräterin. Jedenfalls noch nicht.


Sein Blick war bedrohlich – kehre zum Lager zurück oder verrate uns, sagte er. Leb oder stirb, du hast die Wahl. Denn täte ich es nicht, würde heut Nacht mindestens eine Ratte sterben. So lauteten die Regeln. Und hätte auch nur die kleinste Chance bestanden, dass ich diese tote Ratte sein würde, hätte ich mein Schwert gegen ihn erhoben. Hätte mich ihm gestellt. Aber ich wusste, er würde verlieren. Ich war viel besser ausgebildet. Und ich konnte keine Magie einsetzen, denn damals dachte ich, ich hätte sie für immer verloren. Ich konnte mich nicht einfach hinter ihn teleportieren und in der Nacht verschwinden.


Ich musste also eine Wahl treffen: eine Ratte zu töten oder eine zu bleiben.


Du musst verstehen, Onkel ... Giselher hatte mich immer gut behandelt. Er hatte mir nie wehgetan oder mich gar ausgenutzt. Er hat seine Beute immer fair geteilt. Hat uns alle unterstützt. Und sich um unsere Bande gekümmert. Wäre es nach ihm gegangen, hätte der Rest der Welt zur Hölle fahren können, aber nicht wir ... nicht seine Ratten.


Ich erhob mein Schwert nicht. Ich täuschte ein Lachen vor – ein Friedensangebot. Ich sagte ihm, er solle sich nicht ins Hemd machen. Mir war doch nur nach einem Mitternachtsspaziergang. War das etwa nicht erlaubt?


Giselher lächelte schief. Und lud sich zu meinem improvisierten Spaziergang ein.


Danach erwähnte er den Jungen und seinen Lehrer nicht mehr, aber ich versicherte ihm, dass ich den Alten bei nächster Gelegenheit erledigen würde. Zum Glück kam es nie soweit, obwohl ich noch viele Monde in der Gesellschaft der Ratten verbrachte.


Wochen vergingen. Monate. Mehr Überfälle und Blutvergießen. Bis der Tag kam, an dem ich sie wirklich verließ ...


Der Tag, an dem alle Ratten auf einmal starben, Onkel ... die ganze Bande. Selbst wenn ich mich gegen das Töten entscheide, folgt mir der Tod überallhin.


Sie wurden von dem Löwen aus meiner Vision abgeschlachtet – Leo Bonhart. Einem Kopfgeldjäger. Einem angeheuerten Mörder, der es genoss, Schmerzen zuzufügen und der es vor allem auf mich abgesehen hatte. Er war der schrecklichste Mann, dem ich je in meinem Leben begegnet bin. Er machte meine Bande, meine kleinen Füchse ... zu Trophäen.


Und ich ...


Ich brauche einen Moment, Onkel. Wie wäre es mit etwas zu trinken, hm?


Ist auch der letzte Schluck, versprochen.


Kapitel 12


Ich habe ihn umgebracht, Onkel ... Bonhart meine ich.


Endlich, nachdem so viel Zeit vergangen war. Nach all dem Schmerz, dem Verlust und der Erniedrigung. Nachdem ich so weit gerannt ... sogar in andere Welten vorgedrungen war. In andere Zeiten. Ich dachte, es hört niemals auf. Den Tod im Nacken, vor Augen und immer in der Hand. Aber seinem Schicksal kann man nicht entrinnen.


Der Kampf gegen diesen Hurensohn ... hatte etwas für sich, Onkel. Du hättest mich sehen müssen. Wie ich mich ihm stellte ... Du wärst stolz gewesen.


Aber das ist eine andere Geschichte.


Das Feuer erlischt. Mein Becher ist leer und deiner noch ziemlich voll. Ich möchte dir von deiner letzten Lektion erzählen.


Eines Tages musst du aufhören wegzulaufen. Selbst wenn deine Lieben dir das Gegenteil raten.


Meine Großmutter, Geralt, Yen ... du. Ihr alle habt mir gesagt, ich solle fliehen. Also tat ich es. Ich lief aus Cintra und Brokilon, aus Thanedd und Tir ná Lia davon. Ich floh vor Jägern und Meuchlern, vor Elfen, Menschen, Schwarzen und Roten. Ich wollte meine Lieben nicht in Gefahr bringen, also entkam ich in fremde Welten. Ich glaubte, wenn ich euch alleinlasse, seid ihr in Sicherheit. Aber ihr habt nach mir gesucht. Unermüdlich. Denn so ist das mit der Liebe. Wenn man jemanden liebt, sagt man ihm, er soll fliehen. Weil man die Gefahr gern auf sich nimmt, solange dieser eine Mensch in Sicherheit ist.


Aber es war auch mein Kampf, Onkel. Nicht nur der eure.


In meinen finstersten Stunden war es die Erinnerung an deine Obhut, die mir half, meine Menschlichkeit zu bewahren. Doch diese Welt ist voller Dunkelheit. Ihr hättet mich nie vor ihr fernhalten können – so funktioniert das einfach nicht. Das Böse holt dich immer ein. Irgendwann überholt dich der Tod und hüllt dich in seinen Mantel. Bis du dich ihm endlich stellst. Gemeinsam mit deinen Lieben ... und für sie.


Ich habe lange gebraucht, um es zu verstehen. So viel Blut wurde in dieser Zeit vergossen. Deines auch, Onkel. Ich musste dich verlieren, ehe ich es verstand.


Erst dann konnte ich endlich aufhören wegzulaufen. Das war vor einem Jahr.


Als du starbst.


Als ich noch ein Kind war – eine kleine Hexerin in einer Burgruine voller Ratten und gruseliger Geräusche – sagtest du mir einmal, dass du nicht ewig leben würdest. Dass dich der Tod bald in ein flaches Grab ziehen würde. Aber niemand glaubte dir so recht. Oder hat es ernst genommen.


Für uns warst du ewiglich. Unzerstörbar.


Du hast uns so viel beigebracht.


Deshalb bin ich hergekommen, zu deinem ersten Todestag, und zolle dir an dieser alten Glut Tribut – im Schatten deiner geliebten Burgruine.


Denn obwohl du körperlich nicht mehr anwesend bist, lebst du doch im Geiste weiter – durch die Weisheit und die Liebe, die du uns gabst.


Ewiglich eben ...


Lebwohl, Vesemir, letzter Meister von Kaer Morhen.


Mein Mentor.


Lebwohl, alter Freund ...


Ich werde dich immer vermissen.